Fotografie?

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Fotograf Guy Meyer – Bilder sind stärker als Wörter

Jedes Wort lässt ein Bild entstehen. Ob die Bilder, die den Diskurs bestimmen, virtuell oder reell sind, diese Frage stellt sich für den Straßburger Fotografen Guy Meyer nicht: Ein Bild ist immer beides. Der Text aber ist machtlos gegenüber dem Bild.

Von Michael Magercord | 14.05.2023

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Ein Mann, von dem man nur die Hände sieht, macht mit dem Smartphone ein Foto durch das Fenster eines Flugzeugs.
Fotografie zwischen Smartphone und Melancholie (IMAGO / Westend61 / IMAGO / NOVELLIMAGE)

Zum Verständnis der Bildbetrachtung dient Guy Meyer eine gewagte Eingangsaussage: Zwei Krankheiten hätten das Auge befallen: Atheismus und Religion. Das heißt: Ein Atheist sieht zwar tausend Dinge am Tag, aber keinen Tag.

Er vermag die Zusammenhänge zwischen all den Eindrücken nicht mehr herzustellen und misst jedem Eindruck Realität bei – und genau das ist die Art, wie unsere Gesellschaften heute mit der Bilderflut umgehen beziehungsweise darin untergehen.

Die Epoche des Wortes endet

Guy Meyer gilt als einer der wichtigsten Theoretiker der Bildrezeption von Fotografie. Er wirbt für sein Fach: „Es ist heute die wichtigste Disziplin, um dem Wesen unseres Zeitalters auf die Spur zu kommen.“ Der Epoche nämlich, in der das Bild das Wort als Träger des kollektiven Gedächtnisses und des gesellschaftlichen Diskurses wenn zwar nicht ablöst, so doch mindestens gleichrangig beansprucht.

Ein Foto ist aber kein Abbild der Realität, im Gegenteil, es ist der Zusammenbruch der Realität. Allerdings erlaubt uns jedes Bild, das unsere Wahrnehmung erreicht, einen Blick in die eigene Narretei, denn diese Bilder wirken wie Spiegel.

Guy Meyer, Jahrgang 1955, ist ein emeritierter Professor für Fotografie, Bildlehre und Multimediadesign der Universität Paris-Sorbonne und hat sich seither an vielen Bildungsprojekten für den Medienunterricht beteiligt.


„Warum wurde uns ausgerechnet in dieser Zeit die Möglichkeit gegeben, mit Smartphones zu fotografieren? Was hat die Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts dazu veranlasst, jedem seiner Mitglieder – sogar Kindern, Sechs-, Fünf-, Vier-, selbst Dreijährigen – ein Gerät in die Hand zu geben, mit dem sich ständig eine fast unbegrenzte Anzahl von Fotos machen lässt? Schon die Kleinsten wissen, dass sie Abbilder der Wirklichkeit produzieren können. Hinter dieser Leistungsfähigkeit steckt eine Dimension, die kaum hinterfragt wird. Fotos sind so alltäglich geworden, dass wir uns den ernsthaften Fragen, die unsere Bilder aufwerfen, nicht stellen. Und zwar auch deshalb, weil wir uns dem Denken ausgerechnet durch Bilder entziehen.“
Guy Meyer

Alle können es, fast jeder tut es, Guy Marie Meyer sowieso: Fotografieren. Bis vor wenigen Jahren hat der Fotograf an der Pariser Universität Sorbonne Kommunikationsdesign und angewandte Fotokunst gelehrt, heute organisiert der 67-Jährige Workshops und Kolloquien über die Theorie des fotografischen Bildes – und damit zu einem Thema, das uns alle betrifft: Wir leben im Zeitalter der Fotografie, vor Fotos gibt es kein Entrinnen. Doch beherrschen wir die Bilder oder sie uns? Führt uns das Lichtbild mit seiner vorgegaukelten Wirklichkeit hinters Licht? Lässt sich die Bilderflut bewältigen oder gehen wir darin unter? Ist digitale Bildersucht krankhaft? Wenn Guy Marie Meyer all die Fragen auflistet, die das Foto aufwirft, drängt sich da nicht ein Wort auf, mit dem sich die verwirrenden Zusammenhänge, die hinter diesen Fragen lauern, auf einen Begriff bringen lassen? Guy Marie Meyer spricht es aus: „Pervers“.

„Pervers ist ein Begriff aus der Psychoanalyse. Pervers ist immer etwas, das über unser Verstehen hinausgeht oder das etwas vor uns verbirgt. Ich glaube, das fotografische Bild versteckt vor uns systematisch das, was tatsächlich darauf zu sehen ist. Um der Perversität seiner Erscheinung wieder beizukommen, gilt es, das zu erkennen, was das Foto gerade nicht mehr zeigt. Normalerweise ist man ganz eingenommen von dem Spektakel, das auf dem Bild zu sehen ist. Doch nicht das Bild ist interessant, sondern das, was seine Herstellung nötig gemacht hatte.

Was ist auf einem Bild nicht sichtbar? Wenn Sie auf einem Foto einen Hund sehen, meinen Sie, einen Hund zu sehen. Dabei handelt es sich lediglich um ein Foto von einem Hund, das zuerst die Absicht des Fotografen zeigt, einen Hund fotografieren zu wollen. Bevor wir im Restaurant von unserem Teller einen Happen nehmen, denken wir schon: Oh wie schön, davon muss ich mit meinem Smartphone ein Foto machen. Was sehen wir auf dem Foto? Das Essen. Nicht aber den drängenden Impuls, der die Person dazu genötigt hat, das Foto unbedingt machen zu müssen.

Daran zeigt sich, dass Fotografie ihre ganz eigene Vitalität hat. Die Fotos, die wir im Restaurant von unserem Essen, oder von Meerschweinchen, Hund, Katze, Teddybär oder Interessantem auf der Straße machen, sind der Ausdruck eines Haben-Wollens, eines Mitnehmen-Wollens: Ich will die Spur des Vergnügens, das ich beim Anblick erlebt hatte, in ein fiktives Leben hinein verlängern. Und das macht ein Foto, denn ein Foto ist eine Fiktion.“
Guy Meyer

Damit wird es wieder pervers: Weil das Bild eine fiktive Faszination ausübt, die wir uns selber erschaffen haben, bilden wir uns ein, wir hätten sie bewusst herbeigeführt. Doch mit der Fotografie kann heutzutage jeder Bilder herstellen, auch ohne zu wissen, was er damit anrichtet.

Fast alle machen es. Auch ich hatte eine erste Pocketkamera in der Jugendzeit, bald darauf einen Spiegelreflex-Apparat, es folgten Nächte in der eigenen Dunkelkammer oder stolz-geschwängerte Dia-Abende. Heute nutze ich das Smartphone zum Fotografieren von kleinen oder größeren Merkwürdigkeiten, die mir auf der Straße über den Weg laufen, oder besser: denen ich in die Quere komme – und ich frage mich, was es zu bedeuten hat, wenn ich mich, sobald ich einmal ohne mein Gerät unterwegs bin, immer wieder bei diesem einen Gedanken ertappe: „Ooh, wäre das ein tolles Bild geworden?“

„Der Begriff ‚Bild‘ ist nicht sehr präzise. Bilder sind Zeichnungen, Gemälde, eine Skulptur, die man von weitem sieht. Auch die Erinnerung an Träume formt Bilder. Aber das fotografische Bild ist anders: Es ist das einzige Bild, das seinen Ursprung in der Wirklichkeit hat. Die Perfektion des aufgenommenen Bildes zieht uns unmittelbar in das Foto hinein. Wir haben gar keine Zeit, uns das Bild genau anzuschauen, wir sehen es kaum und sofort deuten wir seinen Inhalt. Von einem Foto werden wir geradezu überrumpelt, es gibt keinen Schutz vor seiner Wirkung, weil es so wirklichkeitskonform daherkommt. Gleichsam hat auch der Fotograf keine echte Kontrolle über das Ergebnis seiner Bilderzeugung. Wenn man nachher die Fotos anschaut, passiert es ziemlich oft, dass man etwas darauf entdeckt, was man gar nicht wahrgenommen hatte.

Abgesehen von der Arbeit im Studio lässt sich die Fotografie nicht völlig beherrschen. Die Aufnahme mag gelungen sein, aber die Überraschungen folgen auf dem Fuße. Doch genau in der Erstarrung des im Grunde Unbeherrschbaren, dem plötzlichen Stillstand des Unvorhergesehenen liegt das Wesen und die einzigartige Poesie von Fotos, die keine andere Art von Bildern hervorbringen kann. Ein fotografisches Bild bleibt eine Leihgabe des Unvorhersehbaren von der Länge des 125-stel einer Sekunde, es bleibt ein Objekt, das aus dem Festhalten eines Augenblicks geboren ist. Es ist die Augenblicklichkeit des Raubtierinstinkts, aus dem heraus es erzeugt wurde – und auch dieser Affekt lässt sich von uns nun einmal nicht völlig unter Kontrolle bringen.“
Guy Meyer

Wenn ich fotografiere, schaue ich anders. Mit der Kamera beobachte ich genauer, bin aufmerksamer – aber stimmt das? Als die digitale Technik aufkam, habe ich den technologischen Sprung nicht vollzogen. Ich stellte das Fotografieren ein. Ich störe mich – anfänglich vermutlich unbewusst – an der unmittelbaren Verfügbarkeit des digitalen Bildes. Früher vergingen manchmal etliche Wochen, bis ein Film voll war und die Bilder von den festgehaltenen Ereignissen vorlagen. Während dieses Wartestandes entwickelte ich nicht nur eine Vorstellung von den Bildern, sondern ebenso eine von den Fotos noch losgelöste Erzählung über die Zeit und die Umstände ihrer Entstehung. Digitale Bilder sind hingegen sofort präsent – und ich frage mich, wie viel Entwicklungszeit sie meinen Erinnerungen noch lassen? Ist das unvermittelt vorhandene Abbild schon so konkret und reell, dass die Bilder keine weitere Imagination mehr erlauben?

„Paradoxerweise hatten sich die Surrealisten sofort auf die Fotografie gestürzt. Auf den ersten Blick, ja, zeigt ein Foto eine Tatsache, ist faktisch, greifbar, real. Aber die Surrealisten haben sich der Fotografie bedient, weil sie verstanden haben, dass es sich bei einem Foto immer um eine Fiktion handelt, ein imaginäres Objekt: Es steht vor dir, befindet sich aber nicht vor dir, es ist bloß auf dem Foto. Und du erfreust dich daran, an seine Existenz zu glauben, du spielst Kino im Anblick dieses Bildes. Du denkst, es ist echt und vielleicht bekommst du sogar Angst vor dem Bild, weil du dir vorstellst, was als Nächstes passieren könnte, oder was zuvor geschehen war. Vielleicht überkommen dich bei seinem Anblick ein Verlangen oder Lust. Wir kennen es ja alle: Pornografische oder erotische Bilder lösen Empfindungen aus, die wir zwar nicht wirklich erleben, aber doch verspüren, weil wir als Betrachter das Bild zu einer Szene vervollständigen. Und das ist ein ganz kurzer Vorgang, wir brauchen nur einen Bruchteil einer Sekunde, um den Drang, das Bild auszuweiten, zu verspüren. Es braucht bloß ein Stimulus von einer 125-stel Sekunde, um uns dazu zu bringen, um ein Bild herum eine Geschichte zu spinnen. Wenn ich sage: eine Geschichte spinnen, dann geht das bis zur Selbsttäuschung, an sie wirklich zu glauben. Daraus entspringt Missbrauch, aber auch viele der unbewiesenen falschen Wahrheiten, die auf Fotos beruhen, denen einfach geglaubt wird. Wenn also unsere Zeit die Epoche der Bilder ist, muss man sich ihnen stellen: Was ist ein Bild, welche Sprache spricht es, worüber spricht es? Was siehst du? Was denkst du, wenn du das siehst? Was sagt es dir? Hinter dem Horizont eines Bildes lauern die Worte: Was werde ich in Anbetracht eines Bildes schließlich sagen? Ein Bild sagt nicht alles, doch was lässt es mich sagen? Es wäre zwar wichtig, das genau auszudrücken, doch was steht wiederum hinter dem Horizont dieser Worte? Dort stünde, weil wir es gar nicht genau ausdrücken können, das Nicht-mehr-Sagbare.“
Guy Meyer

Mit dem Aufkommen der Digitalfotografie hatte ich das Fotografieren zwar eingestellt, nicht aber die Beschäftigung mit Bildern und ihrer Botschaft. Ich begann mein Archiv von Schwarzweiß-Negativen zu sichten, dabei vor allem jene Bilder, die mittlerweile eine historische Aussage beinhalten. Die Durchsicht mündete in einem Bildband mit Reportagefotos von der Berliner Mauer*, die ich über 20 Jahre zuvor – damals Student im Westteil der Stadt – vor, während und nach ihrem Fall aufgenommen hatte. Gut 20 Jahre später frage ich mich, welche Informationen diese Bilder ihren Betrachtern eigentlich noch vermitteln? Formen sich die Reportagefotos, die unter ganz unterschiedlichen Umständen und Absichten entstanden sind, nun unwillkürlich zu einer einzigen Fügungsgeschichte, die nur so enden kann, wie die Geschichte endete?

„Wenn wir fotografieren, halten wir die Zeit an und sorgen dafür, dass Szenen und Objekte aus dem Lauf der Zeit entnommen werden und Bestand haben. Ein Reportagefoto ist allerdings zuerst einmal ein Bild, das unmittelbar einen Befehl erteilt: Seht, ich vermelde euch eine Neuigkeit. Doch der Gehalt seiner Information hat keine langanhaltende, gleichbleibende Bedeutung: Bei seiner Aufnahme ist es eine Nachricht, wird schon am nächsten Tag zu einem Zeitdokument, und das ein oder andere dient schließlich der Geschichtsschreibung durch Bilder, die ab und an immer wieder vor uns auftauchen. Wir können es ohne allzu große Aufmerksamkeit ansehen und sofort stellt sich der ganze Ablauf des Ereignisses ein, weil wir seinen Fortgang kennen. Doch diese Bilder enthalten nicht nur ein Ereignis, was besänftigend oder aggressiv auf uns wirken kann, sie zeigen uns etwas, das stattgefunden hat und nun nicht mehr zurückholbar ist. Damit lösen sie eine Obsession für das Nicht-mehr-Zugängliche aus: Ob ich dabei war oder nicht, ich weiß nun, was passiert und nicht mehr wieder aus der Welt zu schaffen ist.

Reportagebilder sind schwer zu ertragen, weil sie das Leben einfrieren. Diese Bilder sind wie ein kleiner Tod. Beim Betrachten verspüren wir unser eigenes Erleben des Ereignisses und die hilflose Ausgesetztheit vor der Geschichte. Die Bilderflut in den Netzwerken zwingt den Fotografen, immer stärkere Bilder zu haben als der andere. Dazu werden ihre Fotos auch ästhetisch immer schöner. Dabei geht es nicht um das Bild, sondern um die Wirkung, die es beim Betrachter erzielen soll. Sie werden effektvoll schön, fast zu Kunstwerken, was aber nicht die Aufgabe von Reportagefotos ist. Wir werden von ihnen gleichzeitig betäubt und bedrängt, und das Gefühl der Ausgesetztheit vor den Ereignissen verstärkt sich bei ihrem Anblick.

In der Kunst wurde mit dem Einschreiben von Schönheit schon immer eine Wirkung beabsichtigt, doch ist die Art und Weise, wie sie schließlich wirkt, nur sehr schwer zu entschlüsseln.

Im Museum am Quai Branly in Paris sind Fetische, Totems und Masken aus Afrika zu sehen. Dort, von wo sie einst geholt worden sind, wurde ihnen eine bestimmte Wirkung eingeschrieben, die sich nur an jenem Ort entfalten konnte: Ihre Wirkung braucht einen bestimmten Ort.

Ein Reportagefoto aber ist von vornherein ein Objekt, das geschaffen wird, um es anderswohin zu bringen. Ein Foto, das in der Ukraine, Syrien, wo auch immer aufgenommen worden ist, wird schließlich in der Metro oder im Wartezimmer vom Zahnarzt vielleicht schon im Stress aus der Angst vor dem Bohrer angeschaut. Die Deportation des Bildes erst sorgt dafür, dass es jene Wirkung erzielt, die in der Absicht seiner Entstehung lag.“
Guy Marie Meyer

Meine persönlichen Negative und Dias sind mittlerweile eingescannt und als Bilddateien gespeichert. Die Kratzer auf den über 30 Jahre alten Filmen einfach wegpixeln zu können: Wen könnte diese Möglichkeit der digitalen Nachbearbeitung nicht begeistern? Als ich aber einen Kratzer aus dem übellaunigen Gesicht eines Mannes entfernte und dieser Griesgram auf meiner fotografischen Bilddatei plötzlich zu lächeln schien, drängten sich auch mir all die Fragen auf über die Verfälschung digitaler Fotos: Wird der Blick, den ein Foto auf die Welt bietet, damit ein trügerischer? Ist es gar Betrug, wenn es sich auch noch um ein Reportagebild handelt? Für Guy Marie Meyer bewegte sich die Fotografie sowieso schon immer verdächtig nah an der Grenze zwischen Glaubwürdigkeit und blindem Glauben. Bedeutsamer für die Wirklichkeitswahrnehmung von Bildinhalten sei vielmehr das Zusammenspiel von Sehen und Wissen. Er fragt: Sehe ich nur, was ich weiß? Und ich frage mich: Wenn mir ein Foto ins Auge springt, sehe ich es an oder sieht das Bild mich an?

„Ich habe ein Foto vielleicht schon tausende Male beiläufig angeschaut, doch plötzlich springt es mir ins Auge. Warum ausgerechnet jetzt? Und damit berühren wir das Wunder von Fotos. Daran zeigt sich aber auch, wie sehr ein Foto sich verstellt und das Sehen behindert.

Unser Wahrnehmungsapparat ordnet jedes Ereignis, welches auch ein Bild sein kann, sofort entsprechend unserer Vorprägungen ein, und ein Foto erlaubt spontan keinen Zweifel an seinem Inhalt, gilt es doch als reales Abbild seines Objektes. Schaue ich mir aber ein Foto im Bewusstsein an, dass es mich, indem es mich etwas sehen lässt, am Sehen hindert, verstehe ich besser, wie ein Foto seine Wirkung erzielt.

Worauf aber achte ich? Auf das einzige, was man wirklich objektiv sehen kann: Wie viele der Bilder sind im Querformat, wie viele hochkant; in Schwarzweiß oder Farbe; kommt das Licht immer aus derselben Richtung; oder die Tiefenschärfe: Was ist klar, was verschwommen; geht der Fotograf ganz nah an sein Objekt heran wie ein Kind oder hält er es auf Distanz.

Aber natürlich verbleibt auch diese Betrachtung an der Oberfläche. Interessant wird sie erst, wenn ich mir die Frage stelle, welche dieser Faktoren dazu geführt haben, dass ausgerechnet dieses Bild mich anspricht. Wenn ich mir darüber klar werde, bin ich sein Urheber geworden. Und diese Art der Analyse eines Bildes endet nie. Es ist wie bei der Analyse eines Psychoanalytikers. Wir fügen bei jeder Sitzung etwas Neues hinzu, um das Gesamtbild weiter zu vervollständigen. Ein Foto ist ein Teilchen eines Großenganzen, das wir Wirklichkeit nennen. Es ist ein kleines Stück dieser Wirklichkeit, das wir wie aus einem Puzzle herausnehmen können und damit aus der Wirklichkeit entheben.

Wenn wir fotografieren, zetteln wir einen Aufstand an: einen Aufstand gegen die Wirklichkeit. Indem wir diesem kleinen Teilchen seine Zeitlichkeit nehmen, entnehmen wir der Wirklichkeit ein Stückchen und eignen es uns an – aber warum tun wir das, und was sagt uns das?“
Guy Meyer

Eines noch nicht allzu weit zurückliegenden Tages trat das Smartphone in mein Fotografenleben – und mit ihm wurde das Fotografieren in jeder Bedeutung des Wortes alltäglich. Es bedarf keines besonderen Anlasses mehr, keiner Feier oder Reise, jetzt bieten mir schon kleinste Begebenheiten oder Beobachtungen auf den alltäglichen Gängen den Anlass für die Erstellung einer Bilddatei. Mit dem sanften Druck auf den digitalen Auslöser enthebe ich eine Alltäglichkeit aus dem Fluss des Alltags und halte mir damit für einen kurzen Augenblick das Gefühl, darin bloß mitzuschwimmen, vom Leibe. Ganz so, als gäbe es keine Ewigkeit mehr, sondern nur das ewig Besondere – und ich frage mich, ob es auf dieser Welt noch etwas geben kann, das nicht irgendwann von irgendwem fotografiert werden wird? Und wenn ja, welche Kriterien müsste dieses Etwas erfüllen, um unfotografiert zu bleiben? Vielleicht deshalb, weil es nicht vermag, das Bedürfnis zu befriedigen, aus dem heraus heutzutage fotografiert wird?

„Warum ist die Fotografie im 19. Jahrhundert aufgekommen? Sie vollzieht in einem technischen Apparat sowohl die Malerei des 18. Jahrhunderts, die extrem realistisch gemalten Stillleben aus Flandern, als auch Leonardo da Vinci und den Fluchtpunkt. Die zentralperspektivische Organisation des bildlichen Sehens hatte sich am Ende des 14. Jahrhundert durchgesetzt, und zwar genau in jenem Moment, als den abendländischen Menschen der spirituelle Geist nicht mehr genügte und sie glaubten, Gott nicht mehr als einzigen Bezugspunkt nötig zu haben. Was ist ein Fluchtpunkt? Es ist ein Punkt, in den man sich fliehen kann, und zwar auf der Flucht vor der ‚conditio humana‘, den Grundbedingungen des menschlichen Seins. Es ist der Punkt, den nur ich von meinem Standort aus sehe. In ihn fliehen sich meine Sichtachsen, die ich im Augenblick des Schauens mit niemandem teile. Er ist ein Ort, wo man Gott nicht mehr begegnen muss, durch ihn trete ich in das Reich der menschlichen Freiheit ein, in dem der Mensch und nicht mehr Gott der Mittelpunkt der Welt ist. Mit ihm haben sich damals die Paradigmen völlig verschoben – und heute mit der virtuellen Realität verschieben sie sich erneut fundamental. Wir verlassen eine Zivilisation und schaffen eine völlig neue durch die Veränderung der Beziehung zur Bildwelt: Wir hatten die Bildwelt Gottes verlassen, nun verlassen wir die Bildwelt des Menschen – und dann? Sicher ist nur: Es wird eine Parallelwelt sein, die nicht mehr in der Realität verankert ist, sich aber auch nicht im Surrealen, im Übersinnlichen, ansiedeln ließe, sondern eine neue Wirklichkeit schaffen wird. Auf dem Weg dahin machen wir uns mit unseren Smartphones erst einmal selbst zum Fluchtpunkt. Wir vergewissern uns gegenüber uns selbst, indem wir auf uns selbst zielen. Es kein Zufall, dass sich dies heute vollzieht. In unserer Epoche wird das Dasein immer fragiler. Die Menschen empfinden ihre Zerbrechlichkeit oder besser: ihre Verwundbarkeit wieder stärker. Im Bild finden sie eine Art des Trostes. Ein Foto bietet einen Haltepunkt, in ihm vergewissern wir uns über unsere Position in der Welt. Fotografieren ist zu einem elementaren Bedürfnis geworden, denn wir sind einsam, Gott oder etwas Gottähnliches ist nicht mehr der Fluchtpunkt unseres Lebens. Und je einsamer wir Menschen uns fühlen, desto mehr Fotos und Bilder machen wir.“
Guy Meyer

Kaum, dass ich begonnen hatte, mit meinem Smartphone den Alltag und seine Alltäglichkeiten zu fotografieren, war der Speicher des Gerätes voll. Nichts wäre leichter, als die Bilddateien wieder zu löschen. Stattdessen landen die meisten auf externen Speichermedien. Die Unfähigkeit, mich den einmal abgespeicherten Fotos zu entledigen, geht einher mit dem Drang, ständig neue hinzufügen zu müssen. Schaue ich die Speicher wieder durch und bearbeite Bilder nach, suche den griffigsten Ausschnitt, probiere aus, ob sie kontrastreicher, farbintensiver oder doch vielleicht schwarzweiß besser wirken, stelle ich fest, dass mich die Motive gerade jener Fotos, die sich am wirkungsvollsten in eine neue Ansicht setzen lassen, kaum mehr berühren. Bin ich noch von dieser Welt, wenn mich das Bild berührt, nicht aber sein reales Vorbild?

„Aus klinischer Sicht gilt Melancholie als gefährliche Krankheit. Melancholie ist Nostalgie im Übermaß, doch Nostalgie ist ein zutiefst menschliches Gefühl. Und ja, es stimmt: Die Fotografie zieht melancholisch veranlagte Menschen besonders an. Ich mache ein Foto, dann zwei, drei, zehn, hundert, tausend – hinter dieser Knipserei steht die Melancholie des Sammlers.

Fotografieren dient der Sammlung von Bildern, man nimmt sie auf, fügt Bild auf Bild hinzu, und wenn man die Unmenge von Bildern betrachtet, die sich auf den Datenspeichern befinden, ohne angesehen zu werden, muss man zum Schluss kommen, dass das Wichtigste an dem Akt ihrer Aufnahme ihr Besitz ist, nicht aber das nachträgliche Betrachten der Bilder.

Wie viele Fotos schauen wir uns länger als 30 Sekunden an? Aber wir haben sie, für den Fall der Fälle. Aber welchen Fall?

Fotos haben genau diese Funktion, nämlich die Fähigkeit, Erinnerungen zu speichern, die unser bewusstes Gedächtnis nicht mehr parat hat und die sich mit ihrer Hilfe wieder auffinden lassen. Dann überkommt uns diese Melancholie, die jeder Mensch kennt und sich zeigt, wenn wir gewahr werden, dass wir etliche Dinge vergessen hätten, wenn uns nicht Fotos daran erinnern würden. Wenn aber ein Bild die Fähigkeit besitzt, uns an vergessen Geglaubtes zu erinnern, war es nicht wirklich vergessen. Das Bild sorgt nur dafür, dass wir die Elemente, die bewahrt sind, wiederfinden und die Erinnerung auflebt.

Wir denken uns zurück, erleben es noch einmal und doch gleichzeitig neu. Und wenn ich sage: ‚zurückdenken‘, auf Französisch ‚repenser‘, dann ist das ein Wortspiel, denn ‚penser‘, denken, bedeutet ebenfalls: heilen, eine Wunde verbinden.

Die Fotografie zögert beim Denken über unser Leben den Moment hinaus, an dem wir in unseren Gedanken bei unserem eigenen Tod ankommen.Das ist fantastisch, denn das ist die Funktionsweise der Melancholie.“
Guy Meyer

Fotos können Freude auslösen, Fotos können traurig stimmen. Und es ist oft ein und dasselbe Bild, das beides zugleich vermag. Doch gerade in der Trauer über das Vergangene nährt sich die Freude über das Bild: Denn wären sie nicht vergänglich, würde keines unserer Fotos ebenso wenig wie die mit ihnen verbundenen Erlebnisse je eine Bedeutung erlangt haben. Wenn Fotografien beides zugleich auslösen können: die heimliche Freude über die Traurigkeit und die heimliche Trauer über die Freude – so stellt sich mir schließlich die letzte Frage: Sind wir Fotografen, und damit nahezu jeder unter uns, nicht immer auch anonyme Melancholiker?

„Die Melancholie, die dem Prozess des Fotografierens innewohnt, ist eine unbewusste. Wir werden von ihr zum Fotografieren gedrängt, doch in dem Moment, in dem wir diesem Drang nachgeben, erteilt uns das Foto die Erlaubnis, eben diesen Moment vergessen zu dürfen. Ich glaube, die Fotografie hat eine erlösende Funktion: Der Schmerz darüber, sterben zu müssen und nicht wieder in vergangene Zeiten zurückkehren zu können, wird auf das Foto übertragen. Das Foto ist ein wunderbares Objekt, das sich dazu eignet, darin Erlebnisse und Erinnerungen zu beerdigen, wie man einen Körper beerdigt. Es reißt eine Kluft auf zwischen uns und dem, was darauf zu sehen ist, wodurch wir gewahr werden, dass wir sterblich sind. Gleichzeitig aber sehen wir, dass wir über das Foto hinaus weiterleben. Das Bild bestätigt uns: Wir sterben und leben dennoch. Die Menschen, die die Fotografie ernsthaft betreiben, beschäftigen sich mit der Frage des Todes. Und ja, ganz ohne Bescheidenheit: Wir sind uns ein wenig mehr darüber im Klaren, was es bedeutet, wenn etwas vergänglich ist. Wenn wir verstehen, wie sich dieser Vorgang des Vergehens auf einem fotografischen Bild abspielt, dann können wir damit besser umgehen.“
Guy Meyer