
Algorithmen der wahren Empfindung – Von Menschen und Maschinen
Traurig, aber wahr, in Deutschland leben 17 Millionen Menschen allein, das ist laut einer ersten Auswertung des jüngsten Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes rund jeder Fünfte. Ein Drittel dieser Gruppe gilt als besonders häufig von Armut bedroht. Oftmals leben Ältere allein; bei den über 85-Jährigen ist es mehr als jeder Zweite. Im langfristigen Vergleich stieg die Quote der Alleinlebenden deutlich. So lag der Anteil 2004 bei noch rund 17 Prozent, aktuell sind es 20,6 Prozent. Diese Nachricht wurde am 16.07.2025 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
Im Deutschlandfunk -Radio Essay und Diskurs
Wir kommen unseren Maschinen immer näher, oder sie uns, emotional, körperlich, kulturell. Zwischen Haut und Interface, Gefühl und Pixel, Vorstellung und KI gilt es zu fragen: Was macht uns menschlich, wenn Technik uns längst berührt? Entsteht da eine neue Zärtlichkeit? Maschinen, die wir streicheln, Smartphones, die wir wärmen, Roboter, die zurückblicken.
Wir leben in einem digitalen Zeitalter, das nicht kalt, sondern berührbar geworden ist – ein hybrides Jetzt, in dem KI keine Bedrohung, sondern Spiegel ist – gefüttert mit menschlichem Ausdruck, bewohnt von unseren Ängsten, Wünschen und Widersprüchen. KI muss eben gerade nicht als Gefahr wahrgenommen werden, sondern erweist sich als kultureller Speicher, aus dem immer Neues entsteht. Auch in der Kunst.
„I’m tired of using Technologe – yeah“ singt Milo bereits in den 2010er Jahren, „why don’t you sit on top of me?“ und bringt auf den Punkt, was zig Pärchen in Fernbeziehungen bei pixeligen Skype Calls und mehr oder minder befriedigenden Cybersex-Momenten dieser Zeit spüren. Vor Tinder, vor mechatronischen Sexpuppen, die heute – 2025 – schon an dem ein oder anderen Ort auf der Welt geheiratet wurden – war das ein Plädoyer für das Physische. Mittlerweile kann sich die Technologie allerdings schon „auf dich drauf setzen“ – ob als Love Robot auf den Schoß oder aber als VR-Brille auf die Nase – das Verschmelzen von virtuellen und physischen Räumen ist in vollem Gange. Als Künstlerin interessiert mich genau dieses Moment des Zwischenweltlichen: Wo findet unsere Humanität statt? Ist das Erzeugen von Technologie und der Umgang damit tatsächlich etwas Künstliches – oder handelt es sich nicht vielmehr um einen zutiefst menschlichen Ausdruck, gerade weil der bewusste Umgang mit Technik uns von anderen Spezies unterscheidet? Ist es am Ende nicht genau das, was uns menschlich macht?
Wenn auf dem Display unserer Endgeräte eine Nachricht aufblinkt – vielleicht von der einen geliebten Person, die uns im Innersten bewegt – verändert sich auf der technischen Ebene nur wenig: Einige Pixel des Displays, bestehend aus leuchtenden Subpixeln, schalten ihre Helligkeit oder Farbe um. Durch minimale elektrische Impulse entsteht eine neue visuelle Anordnung aus Lichtpunkten. Und doch passiert etwas Entscheidendes: Serotonin wird ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller – oder wird langsamer.
Diese Mikrobewegungen der Emotion, ausgelöst durch eine abstrakte Lichtkomposition auf Glas, führen zum Verschmelzen zu einer neuen Realität – der dritten Realität jenseits der physischen (ersten) und der rein virtuellen (zweiten) Welt. Und genau diese dritte Realität erforsche ich malerisch. Denn dieses verschmelzende Moment – zwischen Display und Haut, zwischen Signal und Gefühl – hat mich zu einer Bildsprache geführt, in der schmelzende, glänzende Handschuhe auftauchen: Formen, die sich in ein hautfarbenes Rosa auflösen, irgendwo zwischen Abstraktion, Material und Empfindung.
Immer wieder male ich tief glänzende, schwarze Oberflächen, die auf das Smartphone-Display – jene glatte, lichtemittierende Fläche, die nicht nur Bildträger ist, sondern auch Berührung registriert, verweisen. Kapazitive Touchscreens, wie sie in heutigen Smartphones verwendet werden, reagieren auf die elektrische Leitfähigkeit unserer Haut. Wenn wir den Bildschirm berühren, verändert sich das elektrische Feld an genau dieser Stelle – ein winziges Signal, das registriert, lokalisiert und in eine digitale Reaktion übersetzt wird. Mich (Charlie Stein), interessiert genau dieser Übergang: Wie ein immaterielles, kaum sichtbares Signal über den Körper in das Gerät eindringt – und dort so etwas wie eine Handlung auslöst. Malerisch wird daraus ein Bild der Auflösung, der Berührung ohne Objekt, der Intimität zwischen Haut und Oberfläche.
Wir „streicheln“ das Display unseres Mobiltelefons im Schnitt etwa 2.600 Mal pro Tag – bei intensiver Nutzung sogar über 5.400 Mal. Wie oft streicheln wir unsere Partner? Unsere Freunde? Unseren Hund? Sicherlich deutlich seltener. Und uns selbst? Auch nicht 1.000 Mal am Tag. Mit dem Pinsel auf der Leinwand kann diese Intensität – zumindest bei mir (Charlie Stein)– durchaus so oft vorkommen.

Man könnte sagen: Wir leben in einer berührungsreichen Zeit – für unbelebte Objekte. Vielleicht ist genau das der Grund, warum künstliche Intelligenz immer menschlicher erscheint: weil wir immer zärtlicher mit unseren elektronischen Geräten umgehen: Kein Partner ist uns näher als unser kleines Telefon. Es begleitet uns überall, dicht am Körper. Wir schlafen neben ihm. Wir wärmen es mit unserer Körpertemperatur, laden es regelmäßig auf – fast, als hielten wir ein Neugeborenes im Arm. Wir streicheln es. Wir blicken es an. Wir schenken ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
Aber diese Körper-Display-Interaktionen sind nicht nur technische Prozesse – sie knüpfen an tiefere kulturelle Prägungen an, die unsere Wahrnehmung und unser Begehren strukturieren.
Und die Summe all dieser kleinen, liebevollen Mikrogesten – weltweit, milliardenfach – fließt zurück in ein großes neuronales Netzwerk. Ein globales, kapitalistisch aufgeladenes Gehirn, das unaufhörlich um unsere Zuwendung ringt. Indem wir es täglich füttern mit Klicks, Swipes und Blicken, haben wir die Technik, die uns nach und nach zum Leben erweckt.
„Ich dachte lange, meine besonders ausgeprägte visuelle Wahrnehmung sei etwas Einzigartiges – mir als visueller Künstlerin ganz eigen: ein besonderes Gedächtnis, eine verfeinerte Gabe, ein Talent, das sich über Generationen verdichtet hat. Doch sobald man sich vom eigenen Narzissmus löst, zeigt sich: Das ist keine Ausnahme, sondern die Regel.“

Als Künstlerin verbindet Charlie Stein Technologie mit einem menschlichen Antlitz, humanoide Maschinen, High Heels tragende Roboter, schwarze Touchscreens – keine Zukunftsvision, sondern Spiegel einer Gegenwart, in der wir längst hybrid geworden sind.
In einer Situation, in der menschliche Kulturprodukte kaum mehr von maschinellen unterschieden werden können, wo wir bereit sind, uns von maschinellen tief berühren lassen, wird die Frage umso virulenter, was uns und unsere kulturellen Produkte eigentlich ausmacht?
Charlie Stein ist Künstlerin. Ihre Arbeiten untersuchen dominante kulturelle Ästhetiken und hinterfragen Wahrnehmungsmuster in einer hochgradig digitalisierten und visuell überstimulierenden Welt. Stein studierte Bildende Kunst und Soziologie. Sie war Gastprofessorin für Malerei und Zeichnung an der HfBK Hamburg und lehrte auch am Pratt Institute in New York, der UdK Berlin und CalArts in Los Angeles. Ihre Arbeiten wurden international gezeigt, unter anderem bei der Manifesta-Biennale, in der Kristin Hjellegjerde Gallery in London, im Songjiang Art Museum in Shanghai, im Museum Villa Merkel in Esslingen und bei der Skulpturen-Triennale in Bingen. Charlie Stein lebt und arbeitet in Berlin. Quelle: Radio Deutschlandfunk