Scheinfreiheit des Menschen durch erfolgreiche Erscheinungskonkurrenz, wir vergleichen uns anhand solcher Pseudo-Profile wie Facebook … denn wir wissen nicht, was wir tun.
Sind Facebookprofile nicht eher Schein statt Sein? Wir leben im Modus des Selbst-Designs.
( „Selbstmanagement ist das Design des Charakters aus dem psychischen Rohmaterial der Leidenschaften.“ formulierte jüngst prägnant der Philosoph Norbert Bolz.)
Über das Thema Selbsdesign referiert online Daniel Hornuff im Radio Deutschlandfunk
Unsere Kreativität ist gefragt – nicht denken, sondern handeln? ( Im Radio anhören:
online rechts unten auf dem Portrait-Foto von Daniel Hornuff ist ein Button: AUDIO)
Wir selbst sind unser bestes Produkt und stehen im Wettstreit mit anderen (Produkten), wir wollen was darstellen. Wollen oder müssen wir sogar um jeden Preis beeindrucken, um im Vergleich mit unseren Mitmenschen zu bestehen?
Zitat:“Flexibilität des Selbst, um den Augenblick leben und genießen zu können
Selbstdesign agiert kontextgebunden und tritt als relative Erscheinung auf
Da das Selbst je nach Kontext anders erfahren werden kann, sind auch jeweils andere Designanwendungen gefragt. Die Sozialen Netzwerke liefern das Paradebeispiel: Gerade weil sich deren User frei von der Vorstellung fester Identitäten machen, ist es ihnen möglich, situativ zu reagieren und anlassbezogen zu kommunizieren.
Authentizität zeigt sich für sie in einem Leben, das sich in diesem einen Augenblick entfaltet. Der Bezug auf den Moment überwiegt die Sehnsucht nach Dauer… Beispiel
Das Leben gelingt, wenn das Erscheinen des Selbst flexibel genug gehalten wird, um für spontane Anlässe gerüstet zu sein.“ Daniel Hornuff im Radio Deutschlandfunk
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Ein Leben zu führen heißt aber, dieses Leben gezielt in Form zu bringen. Das gelingende Leben ist ein gestaltetes Leben. Sind wir also die Designer unseres Daseins? Oder geht es um etwas ganz anderes – und wir erhoffen uns von einer Lebensgestaltung in Wahrheit die Lebenskontrolle?
Daniel Hornuff, geboren 1981, ist Vertretungsprofessor für Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er hatte Lehraufträge an den Universitäten München, UdK Berlin, Wien, Mozarteum Salzburg, Tübingen und an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. 2013 legte er seine Habilitation mit einer Arbeit über die Kultur der Schwangerschaft und venia legendi für das Fach Kunstwissenschaft vor.
Dasein als Design?
Das gelingende Leben und die Rolle der Gestaltung Von Daniel Hornuff:
Ende November war es wieder soweit: Zum sechsten Mal wurden im Auftrag der Bundesregierung sogenannte „Kultur- und Kreativpiloten“ ausgezeichnet. Laut Ausschreibung waren „Menschen“ gesucht worden, „die für ihre Ideen brennen. Die nicht nur davon reden, sondern machen“. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, attestierte den Prämierten sogar, „kreative Ideen für eine bessere Welt“ eingebracht zu haben. Als Begründung verwies Grütters auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Gestaltung:
„Unsere Gesellschaft braucht die Kraft ihrer Fantasie, ihre schöpferischen Impulse, wenn es gilt, die Zukunft unseres Landes voranzubringen.“
Es ist weniger der staatstragende Ton, der die Auszeichnung bedenkenswert macht. Vielmehr muss erstaunen, mit welcher Selbstverständlichkeit so unterschiedliche Begriffe wie Kreativität, Kultur und Pilot verbunden werden.
Kreativität als Kulturleistung anerkannt, wenn sie durch Handlung sichtbar wird
Dass uns ein solcher Mix auf den ersten Blick dennoch geläufig und selbstverständlich erscheint, hat damit zu tun, dass wir allerorten auf solche und ähnliche Formulierungen stoßen. Vor allem Kreativität verfügt derzeit über eine enorme gesellschaftliche Konjunktur und wird als schöpferischer Spitzenwert gehandelt. Kreative gelten, was auch immer sich hinter ihrer Bezeichnung verbergen mag, als inspirative Leistungsträger. Sie erscheinen als Personen, denen man zutraut, Grenzen zu transzendieren und Außerordentlichem auf die Spur zu kommen. Dass sie nicht nur über ökonomische, sondern auch über kulturelle Potenzen zu verfügen scheinen, erhebt sie in den Pilotenstatus: Der Kreative wird zum Steuermann des 21. Jahrhunderts stilisiert, zu einem in neue Gefilde Aufbrechender, zu einem Orientierungsstifter.
Das Kunstwerk „Eins.Un.One.“ von Robert Filliou (1926 – 1987). Wenn Kreativität in Handlung sichtbar wird.
Allerdings findet Kreativität erst dann als Kulturleistung Anerkennung, wenn sie durch Handlung sichtbar wird. Hinter dem Imperativ Kreativität steht folglich eines der obersten Gebote der kapitalistischen Moderne: Du sollst nicht denken, sondern handeln! Das kreative Tätigsein möge sich nicht im Sinnieren oder Reflektieren erschöpfen, sondern erschaffen und erzeugen – was dazu führt, dass Kreativität nur ein anderes Wort für Innovation ist. Demnach gilt Kreativität als kultureller Gewinn, sobald sie als innovative Leistung kenntlich wird.
Innovation – Erscheinung im Dasein von Design
Was aber ist eine innovative Leistung? Im Sinne der kapitalistischen Warenproduktion nichts anderes als ein Produkt, das sich innerhalb eines Marktgefüges ökonomisch behauptet. Und um sich ökonomisch behaupten zu können, muss sich das Produkt in vorteilhafter Weise von anderen Produkten unterscheiden. Es soll Nachfragen auslösen, indem es davon überzeugt, Bedürfnisse befriedigen zu können. Demnach hat es sich in einer bestimmten Weise zu zeigen. Seine Erscheinung wird zu seinem Hauptargument. Wie es inszeniert und gestaltet, wie es in Form gebracht und positioniert wird, entscheidet darüber, wie es im Wettlauf mit anderen Produkten abschneidet. Sein Dasein verdankt sich seinem Design.
Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug beschrieb diesen Umstand 1971 in seiner berühmten „Kritik der Warenästhetik“. Darin konstatierte er eine Ablösung der „Gebrauchswertkonkurrenz“ durch „Erscheinungskonkurrenz“: Das Sein der Waren, ihre Funktion, werde schleichend ersetzt durch den Schein der Waren, durch ihr Image. Immer weniger zähle, was die Dinge tatsächlich können, denn immer stärker interessiere, wie die Dinge ankommen. Je größer die erreichte Beeindruckung durch Bilder, Schriftzüge und Formen, desto erfolgreicher das Produkt. Die Verpackung überwiegt den Inhalt.
Für den Marxisten Haug erwachsen aus dieser Entwicklung fatale soziale Folgen. Nach seiner Auffassung beerbt die Werbe- und Konsumindustrie, was die nationalsozialistische Propagandaideologie vorgezeichnet hatte: Die totale Fokussierung auf den Augenblick der Beeindruckung zum Zwecke einer Überblendung tatsächlicher Motive.
Scheinfreiheit des Menschen durch erfolgreiche „Erscheinungskonkurrenz“
Haug geht es demnach weniger um den Zustand der Waren als um die Verfassung der Menschen. Folgte bereits Hitlers Schreckensherrschaft urkapitalistischen Mechaniken, so setzen sich diese in Gestalt einer erlösungsversprechenden Konsumgüterindustrie fort. Haug konstatiert, dass die Menschen seit 1945 gleich doppelt entfremdet leben: In dem Maße, wie sie an ihre Scheinfreiheit glauben, verschreiben sie sich umso bereitwilliger der Logik eines ausbeuterischen Systems. Unbemerkt formatieren sie sich nach warenästhetischen Kriterien; sie treten als Propagandisten von Wünschen und Bedürfnissen auf, die noch nicht einmal ihre eigenen sind. Nach Haug definieren sich nun auch die Menschen über Erfolge auf dem Feld der „Erscheinungskonkurrenz“. Analog zu käuflichen Waren verdanken sie ihr Dasein bloßem Design.
Allerdings steht hinter solchen und ähnlichen Diagnosen ein negativer Begriff des Scheins. Man könnte auch sagen: ein platonischer Begriff des Scheins. Der Schein, realisiert im Design, wird als Lug und Trug, als Vorspiegelung falscher Tatsachen, als negative Verführung gewertet. Er verdeckt das Eigentliche und Wahre, die Substanz und die Wahrheit der Dinge.
Platonischer Begriff des Scheins: Bilder seien ein bloßer Abklatsch der Wirklichkeit, die ihre Stärke in Form von Täuschung ausüben
Im Falle von Platon waren es bekanntlich Bilder, die als bloßer Abklatsch der Wirklichkeit eingestuft wurden – vor denen aber zugleich gewarnt wurde, da sie ihre Abbildungsschwäche in Täuschungsstärke ummünzen: Weit entfernt von der Wahrheit errichteten Bilder eine künstliche Wirklichkeit, die womöglich für die eigentliche Wirklichkeit gehalten werden könnte. Nicht anders argumentiert Haug, wenn er industriellen Warenartikeln attestiert, den Zugang zur Wirklichkeit zu verhindern.
Eine neutrale Definition des Scheins finden wir bei Hegel. Hegel verwehrt sich gegen eine generelle Verteufelung des Scheins und plädiert dafür, den Einzelfall, beispielsweise ein Kunstwerk, genau zu prüfen. In seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ hält er fest:
„Doch der Schein ist dem Wesen wesentlich.“
Und weiter heißt es:
„Die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene.“
Gehört Design zum Wesen des gesamten Daseins?
Somit geht auch Hegel davon aus, dass es so etwas wie eine innere Wahrheit gibt. Allerdings tritt diese nie rein und unmittelbar zu Tage. Stattdessen ist sie notwendig auf Vermittlung, auf eine bestimmte Form des Erscheinens angewiesen. Übertragen auf heute: Dass das Dasein der Dinge an ihr Design gebunden ist, wäre für Hegel kein Verlust an Wirklichkeit. Eher würde er daran erinnern, dass das und somit auch die Massenwaren des Konsums betrifft.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831): Nach seinen philosophischen Lehren würde er heute Design zum Wesen des gesamten Daseins zählen.
Und tatsächlich erweist sich ein solcher Gedanke als aktueller denn je. Immerhin fällt es schwer, auch nur einen Ort innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaften zu finden, der keinem gestalterischen Eingriff unterzogen wurde – den wir also nicht gezielt in Form gebracht haben, um durch ein bestimmtes Erscheinen einen ebenso bestimmten Eindruck zu erzeugen. Dass wir unser Dasein im Modus des Designs leben, ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir kaum einmal das Bedürfnis verspüren, diesen Lebensmodus genauer zu betrachten – und möglicherweise in Frage zu stellen.
Dabei hat sich über die letzten Jahre ein Begriff herausgebildet, der ziemlich klar bezeichnet, um was es derzeit geht: Selbstdesign. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass das Selbst eine weitgehend frei gestaltbare Masse ist, die nach eigenem Willen und Wunsch in Form gebracht werden kann. Das In-Form-Bringen ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Selbstdesign ist wohl weniger ein spezielles Mittel als ein abstraktes Versprechen. Es stellt in Aussicht, man könne durch Selbstoptimierung ausreichend fit für die Bedingungen des modernen Lebens werden.
So lässt sich Selbstdesign auf unterschiedlichste Bereiche projizieren: Ein mentales Selbstdesign ist ebenso möglich wie ein körperliches, ein soziales oder ein finanzielles. Zu denken ist an die Konjunktur pseudo-fernöstlicher Yoga- und Entspannungstechniken, von denen man sich eine Reaktivierung seiner Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeiten erhofft. Vor allem wären aber auch alle schönheitschirurgischen und kosmetischen Eingriffe zu nennen: Diese weisen eine autoplastische Dimension auf und sollen den Körper in eine Balance zu seiner inneren Verfassung bringen. Und nicht zuletzt folgen viele einem wirtschaftlichen Selbstdesign: Sie setzen darauf, durch Vermehrung ihrer finanziellen Möglichkeiten einer gewünschten Freiheit schrittweise näher zu kommen.
Das verbindende Ziel dieser beliebig fortsetzbaren Varianten des Selbstdesigns ist die Erlangung eines authentischen Lebens. Authentisch zu leben heißt allerdings nicht mehr wie noch am Beginn der Moderne: zurück zur Natur, sondern nun: zurück zum Ich! Das Selbstdesign im Dienste der Authentizität ist der Versuch, sein Erscheinen in eine Deckungsgleichheit mit seinem Ich zu bringen.
Selbstdesigner sind Romantiker, die „ihr Ding machen“
„Selbstmanagement ist das Design des Charakters aus dem psychischen Rohmaterial der Leidenschaften.“ formulierte prägnant der Philosoph Norbert Bolz.
Anders gesprochen: Wer ohne konkreten Anlass zum Schönheitschirurgen geht, will so aussehen, wie er sich wirklich fühlt; wer auf Facebook oder Instagram ein Selfie von sich postet, kann eine Stimmung kommunizieren, von der er soeben erfasst wurde; und wer Yoga als Ausgleich zur Arbeit betreibt, will so leistungsfähig werden, wie er meint, eigentlich sein zu können. Selbstdesign folgt der Logik des Managements unter identitätsstiftendem Anspruch.
Selbstdesigner sind gerade wegen ihrer ökonomischen Orientierung romantische Menschen. Sie folgen der Vorstellung eines gelingenden Lebens aus dem Geiste der Übereinstimmung. Sie wollen Widersprüche vermeiden, Entfremdungserfahrungen umgehen und am liebsten „ihr Ding machen“. Noch bis vor kurzem wurde ein solches Leben unter negativen Vorzeichen betrachtet – und mit dem höhnischen Vorwurf der Selbstverwirklichung bedacht. Wer sich immer nur selbst verwirkliche, so der Einwand, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt – und hänge einem überkommenen, nicht mehr konkurrenzfähigen Persönlichkeitsbild nach.
Tatsächlich gibt es einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen Selbstverwirklichung und Selbstdesign: Selbstverwirklichung ist zutiefst egoistisch, ja von totalitärem Charakter. Wer sich selbst verwirklicht, bemisst das gelingende Leben einzig am eigenen Selbst. Dieses wird zur absoluten Referenz, zum Monolithen, an dem sich schließlich auch andere zu orientieren haben. Selbstverwirklichung ist nichts anderes als die Diktatur des Selbst. Der Weg zum „Terror der Intimität“, den der Philosoph Richard Sennett 1987 beschrieb, ist damit eingeschlagen.
Flexibilität des Selbst den Augenblick leben und genießen zu können
Selbstdesign hingegen agiert kontextgebunden und tritt als relative Erscheinung auf. Da das Selbst je nach Kontext anders erfahren werden kann, sind auch jeweils andere Designanwendungen gefragt. Die Sozialen Netzwerke liefern das Paradebeispiel: Gerade weil sich deren User frei von der Vorstellung fester Identitäten machen, ist es ihnen möglich, situativ zu reagieren und anlassbezogen zu kommunizieren. Authentizität zeigt sich für sie in einem Leben, das sich in diesem einen Augenblick entfaltet. Der Bezug auf den Moment überwiegt die Sehnsucht nach Dauer. Das Leben gelingt, wenn das Erscheinen des Selbst flexibel genug gehalten wird, um für spontane Anlässe gerüstet zu sein.
Allerdings ist anhand der Sozialen Netzwerke auch der Preis des modernen Selbstdesigns zu beziffern. Selbstdesign im Sinne der Sozialen Netzwerke heißt nämlich, Daten in Umlauf zu bringen. Ein Social-Media-Dasein ist ein vertraglich fixiertes Dasein. Die Designmöglichkeiten, die den Usern zur Verfügung stehen und über die sie ihr öffentliches Erscheinen regulieren, verlaufen über den Transfer von Daten. Grundlage des Social-Media-Selbstdesigns bildet also der Datenaustausch mit einem Unternehmen, das mit eben diesen Daten handelt. Zwar sind die meisten Portale kostenlos im monetären Sinne zu nutzen; dennoch wird in einer Währung bezahlt, die zu den aktuell attraktivsten gehört: Mit Daten lässt sich inzwischen viel schneller und mehr Geld verdienen als mit Geld selbst.
Die große Frage hinter dieser Konstellation lautet: Ist ein solches Bezahlmodell lebenspraktisch gefährlich? Wird den Usern erneut eine Scheinfreiheit vorgegaukelt, für die sie letztlich teuer, weil weitgehend unbemerkt bezahlen müssen? Verlangt das Dasein im Rahmen des Social-Media-Designs einen unangemessen hohen Preis?
Profanisierung personenbezogener Daten durch situativ gebundene Identität
Man könnte an dieser Stelle in ein kulturkritisches Lamento abkippen – und vor allem die Jugend für einen zu laxen Umgang mit ihren Daten tadeln. Allerdings verkennt der medienpädagogische Ehrgeiz, dass die allermeisten Jugendlichen heute nicht nur ein neues Verständnis von Identität, sondern ebenso veränderte Vorstellungen von Privatheit und Öffentlichkeit pflegen. Für sie ist die bürgerliche Trennung zwischen einem schützenswerten Privatinnenraum und einem gefahrvollen Raum der Öffentlichkeit ein historisches Relikt. Ohne beide Sphären ineinander aufgehen zu lassen, arbeiten sie an deren Verzahnung. Die vielen Millionen Online-Communities sind für sie anlassbezogene Verbindungen aus privaten Bedürfnissen und öffentlichen Gemeinschaften.
Das gelingende Leben ist für sie also kein Leben mehr, dass sich über die Abschirmung persönlicher Daten bestimmen ließe. Die Idee, dass es sich bei persönlichen Daten um private Heiligtümer handelt, war Folge einer auf Stabilität gerichteten Identität.
Anders gesprochen: Um ein richtiges Leben im falschen führen zu können, brauchte es die Verknüpfung von Identität und persönlichen Daten. Wer Daten preisgab, verfiel dem falschen Leben, ja überließ sich dem Bösen. Wer hingegen seine Daten sicherte und bei sich hielt, konnte selbst im allgemein falschen Leben ein persönlich richtiges führen – und stand daher auf der Seite des Guten.
In dem Augenblick jedoch, in dem Identität als nicht mehr fixierbar, sondern als situativ gebunden erscheint, kommt es zur Profanisierung personenbezogener Daten. Sie verlieren ihre sakrale Bedeutung – so dass sie nicht mehr bis aufs Blut verteidigt werden müssen. Stattdessen dienen sie nun als Mittel, mit deren Hilfe sich Identitäten aushandeln lassen. Dass etliche Konzerne damit ihr Geld verdienen, juckt deren User so gut wie nicht. Diesen Umstand sollte man ernst nehmen und nicht nur mit Belehrungen korrigieren wollen.
Kann es nicht auch einen kulturellen Fortschritt bedeuten, wenn sich Menschen von dem Druck befreien, ihre Identität an die Verinnerlichung von Daten koppeln zu müssen? Ein Leben in datengebundener Knechtschaft bedeutet für viele heute gerade das Gegenteil eines gelingenden Lebens.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Nachdenken über das gelingende Leben viel älter als die Konjunktur des modernen Selbstdesigns ist. Schließlich verbirgt sich in ihm die zentrale Frage der Philosophie: Was ist das gute Leben? Und was unterscheidet dieses von einem schlechten?
Zu elaborierten Antworten fanden bekanntlich die antiken Philosophen: Von Platon über die Sophisten bis hin zu Aristoteles und den Pyrrhonikern wurden Konzepte erarbeitet, um die Frage nach dem Gutem im Allgemeinen und dem guten Leben im Speziellen zu beantworten. Ihr gemeinsames Merkmal lag dabei in der Forderung nach Beziehungsarbeit: Stets ging es darum, das gute Leben nicht um seiner selbst willen zu installieren; stattdessen war dieses in den Dienst einer höheren Sache zu stellen und etwa mit dem Willen der Götter, den Ideen im Himmel oder dem sozialen Gemeinwesen zu verbinden. Insbesondere Aristoteles entwarf dabei eine Art Essentialismus des Guten, davon ausgehend, dass das Gute eine allgemein vorhandene Sache sei, die durch den Einzelnen abgerufen werden müsse. Glück widerfuhr, wem es gelang, das Gute zu seinem öffentlichen Recht kommen zu lassen – was bedeutete, dass auch das Glück keine Sache des Individuums war, sondern als Vermögen der Allgemeinheit galt.
Voraussetzung war ein streng tugendhafter Lebenswandel. Aristoteles forderte die Ausrichtung allen menschlichen Strebens auf das höchste Ziel des Lebens – die Eudaimonie: eine Glückseligkeit im umfassenden, Individuen wie Gemeinschaften umspannenden Sinne. In den Genuss dieses Idealwerts kam also nur, wer sich in absoluter Weise der aristotelischen Ethik unterwarf. Letztlich war das gute Leben kein persönlich realisiertes, sondern ein philosophisch konzipiertes. Die Eudaimonie war eine Art Philosophenprämie für die Befolgung einer Tugendethik.
Individuelles Lebensglück durch libidinöse Bindung an das Leben
Allein daran ist zu ermessen, welch große Verschiebungen neuzeitliche Auffassungen gegenüber antiken Vorstellungen eingeleitet haben. Das objektivierte, allgemeine Gute wurde durch das subjektive, individuelle Gelingen abgelöst.
„Jeder ist nun ’seines Glückes Schmied‘ und kann ’nach seiner Façon glücklich werden‘. Denn es gibt nur mehr individualisierte Vorstellungen vom Glück: Glück ist Privatsache.“
Formulierte anschaulich der Philosoph und Theologe Armin G. Wildfeuer. Und genau darin liegt der typisch moderne Zug: Das Glücksempfinden des Einzelnen ist die Blaupause, an der das Gelingen des eigenen Lebens bemessen wird. Dass es dabei um eine besondere Sensibilität für den eigenen Umraum geht, ja dass der Einzelne zum Gelingen seines Lebens Resonanzverhältnisse aufbauen muss, daran hat der Soziologe Hartmut Rosa erinnert:
„Das Leben gelingt […] wenn wir es lieben. Wenn wir eine geradezu libidinöse Bindung an es haben. ‚Es‘, das sind die Menschen, die Räume, die Aufgaben, die Dinge und Werkzeuge, die uns begegnen und mit denen wir zu tun haben.“
Doch das Leben zu lieben heißt noch lange nicht, es auch gelingend zu führen. War bereits vom Selbstdesign die Rede, so ist darin auch ein reflektiertes, geradezu distanziertes Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen und Wünschen enthalten. Die gelingende Lebensführung erscheint demnach als eine weitere Zauberformel des 21. Jahrhunderts.
Selbstdesign durch Verzicht – „wenn weniger mehr ist“
Schon ein kurzer Blick in die Flut populärer Lebensratgeber lässt keinen Zweifel: „Simplify your life“ meint doch in Wahrheit: Vereinfache Dein Leben, um es effektiver kontrollieren zu können. Lebensführung bedeutet Lebenskontrolle – und Kontrolle ist nur durch die Reduktion von Komplexität zu erreichen. Dies ist der Grund, warum der Verzicht in unserer Gesellschaft zu einem der stärksten Machtattribute avancieren konnte: Sich gegen etwas zu entscheiden oder Dinge gar abzugeben bedeutet nun, souverän zu bleiben, Herr im eigenen Haus zu sein und sich gerade nicht seinen Trieben, Instinkten, Schwächen und Gelüsten zu überlassen. Lebensführung als Lebenskontrolle verläuft über Gesten der Beherrschung. Letztlich ist das Selbstdesign nichts anderes als ein abwechslungsreiches Programm zur Selbstdisziplinierung.
Daraus ergibt sich, dass das Selbstdesign die Form des „Self-Trackings“ annehmen kann. Mit Fitness-Apps, Pulsmessern, Schritt- und Kalorienzählern bis hin zu Protokollen über den Stuhlgang wird das komplette Lebensverhalten vermessen. Das Leben scheint besser zu gelingen, indem es total berechenbar wird. Nun sind es also doch wieder Daten, die als Mittel der Objektivierung angesehen werden – denn was erst einmal objektiv dargestellt ist, kann auch nach objektiven Kriterien gesteigert werden. Entscheidend jedoch ist, dass diese Daten mit anderen geteilt und ausgetauscht werden. Erst im Vergleich mit anderen bekommen die eigenen Lebensdaten einen Sinn. Das „Self-Tracking“ ist ein mitunter pathologisches Spiel mit Zahlen, bei dem gewinnt, wer die höchste Disziplinierungsleistung vollbringt.
Dass Verzicht zum Gelingen beitragen kann, ist, ganz allgemein betrachtet, eine der stabilsten Formeln der Geistes- und Ideengeschichte – und nicht zuletzt ein Allgemeinplatz der Alltagskonversation. Zudem ist er tief mit dem modernen Design und seiner Geschichte verbunden; freilich nicht mit dem Selbstdesign, wohl aber mit dem Produktdesign. So ging es beispielsweise unter dem Stichwort der „Guten Form“ seit den späten 1950er-Jahren darum, das deutsche Produktdesign von zu viel Schnickschnack und Brimborium zu befreien. Durch eine Konzentration der Gestaltung auf Funktion und Gebrauchstüchtigkeit sollte der Umgang mit den Dingen wieder bewusster erlebbar werden.
Mit „less is more“‚, weniger ist mehr, schwor Mies van der Rohe bereits in den 1920er-Jahren die Architektur auf Minimalismus ein. Schon damals war es das Ziel, durch entschlackte Formen den guten Geschmack zu schulen. Entsprechend ging es auch dem begrifflichen Urheber der „Guten Form“, dem Schweizer Künstler und Designer Max Bill, darum, das gute Leben durch die Gestaltung von Alltagsdingen zu initiieren. Der Gedanke, dass das Dingdesign Einfluss auf das Dasein der Menschen ausüben könne, war unstrittig – und faszinierte so bedeutende Institutionen wie die Ulmer Hochschule für Gestaltung oder den Deutschen Werkbund.
Wie weit müssen wir also denken, wenn wir einem Design die Kraft der Einwirkung auf unser Dasein zusprechen wollen? Gibt es das überhaupt: ein Dasein ohne Design? Ist es nicht vielmehr so, dass jede Lebensentscheidung immer auch Formentscheidungen beinhaltet? Dass also materielle und immaterielle Gestaltungen Hand in Hand gehen müssen, um dem Leben überhaupt den Anstrich des Gelingens geben zu können?
„Unsichtbares Design“ – Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse
Es wäre verkürzend, das Leben nur dann als gelingend einzustufen, wenn es mit persönlichen Glückserfahrungen durchsetzt ist. Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hat einen anderen Weg eingeschlagen – und den Begriff des „unsichtbaren Designs“ geprägt. Damit meinte er all jene Gestaltungseingriffe, die nicht das Leben des Einzelnen, dafür aber das Zusammenleben der Menschen insgesamt betreffen. Ihm war es ein Anliegen, dafür zu sensibilisieren, dass die Gestaltung gesellschaftlicher Systeme einen bedeutenden Einfluss auf das Leben der Menschen in diesen Systemen ausübe. Als Beispiel diente ihm die Beschreibung westlicher Krankenhäuser: Die Form dieser Institution, ihre architektonische Ausführung, ihre interne Personalstruktur und ihre Sprachcodes bestimmten ganz wesentlich, wie Krankheiten empfunden und welche gesellschaftlichen Images ihnen jeweils zugedacht würden. 1983 schreibt Burckhardt:
„Die Krankheit selber als gestaltungsfähig zu verstehen, fällt uns schwer. Und doch, wenn wir alte Stiche betrachten, fällt uns auf, dass Krankheit früher anders war: Man verbrachte sie weitgehend im Sitzen, während man heute liegt. Man ließ sich von Freunden, Nachbarn und vom Priester trösten, während man heute allein bleibt und den Arzt ruft. Krankheit ist also ‚designbar‘.“
Burckhardt macht deutlich, dass das „unsichtbare Design“ die Gestaltung von Institutionen betrifft – und damit zur Formatierung gesellschaftlicher Prozesse beiträgt.
Daher richtet er an professionelle Designerinnen und Designer den Anspruch, Gestaltung im emphatischsten Sinne zu betreiben – und sich nicht nur mit der ökonomischen Perfektionierung verkäuflicher Dinge zu begnügen. Denn letztlich würden damit nur bestehende Muster und Rollenklischees verstärkt: Wer sich etwa ausschließlich um eine effektivere Gestaltung eines Staubsaugers kümmere, blende aus, dass dieser mehrheitlich von Frauen in einer bestimmten familiären Rolle benutzt werde. Wer hingegen an Emanzipation und Gleichstellung der Geschlechter interessiert sei, müsse sich überlegen, welche Designentscheidung er zur Aufweichung traditioneller Rollenzuweisungen einbringen könne.
So nachvollziehbar solch gute Absichten sind, sie resultieren doch aus einer großen Illusion – und erweisen sich als nachgerade gefährlich. Kann die Gestaltung von Dingen und Institutionen wirklich soziale Realitäten verändern? Werden damit Verantwortlichkeiten nicht einfach nur abgedrückt und Missstände marginalisiert? Ist das gelingende Leben also nur ein Leben, das sich in Abhängigkeit vom Gelingen der Systeme vollzieht? Und warum sollen gerade Designerinnen und Designer darüber entscheiden, welche Form das gelingende Leben annehmen soll? Wenn sie erst einmal mit solchen Ansprüchen aufgeladen sind, rutschen sie dann nicht in die Rolle von Volkspädagogen? Und droht dann nicht automatisch eine Infantilisierung der Menschen, die es zum besseren Leben zu erziehen gilt?
Die Frage nach dem gelingenden Leben mit dem Begriff des Designs zu verbinden, ist also ein äußerst gewagtes Unterfangen. Nicht nur bleibt fraglich, was unter dem gelingenden Leben konkret verstanden werden soll; auch wird eine der großen Schwächen des Designs, nämlich dessen völlige Unbestimmbarkeit, ausgenutzt. Design ist ein derart offener Begriff, dass sich in ihn schlicht alle Formen von Entscheidung, Lebensführung und Lebenswandel hineinprojizieren lassen. Dass das Design überhaupt ein Begriff werden konnte, der über die Gestaltung von Dingen hinausweist, hat also damit etwas zu tun, dass er alle möglichen Varianten des Entwerfens, Gestaltens und Inszenierens zu umfassen scheint. Man könnte auch sagen: Weniger von Design zu reden kann helfen, das Dasein besser zu erfassen.
Überhaupt wäre zu fragen, ob das Nachdenken über das Design des Daseins nicht nur eine Spielform der „Sozialen Plastik“ darstellt. Was Joseph Beuys seit den 1950er-Jahren immer wieder unter der Formel der „Erweiterung des Kunstbegriffs“ konzipierte, zielte darauf, die Gesellschaft als einen flexiblen Körper zu interpretieren. Gerade weil Gesellschaft als weicher und daher formbarer Organismus anzusehen sei, könne und müsse dieser eine Gestaltung erfahren. So setzte auch Beuys auf die Schaffenskräfte des Einzelnen, sollten doch aus Individuen die Gestaltungseingriffe hervorgehen, die zur Modellierung des Gesamtorganismus Gesellschaft beitrugen.
Der Künstler Joseph Beuys: Sein erweiterter Kunstbegriff sieht Gesellschaft als formbaren Körper, der modellierbar ist.
Das gelingende Leben war nach Beuys ein künstlerisch geführtes Leben – wobei die künstlerische Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf Gegenstände, sondern auf soziale Gefüge zu richten war. Ihnen mit mehr Aufmerksamkeit zu begegnen führte dazu, den Einzelnen zum Künstler zu erheben. In der Tradition des anthroposophischen Welt- und Menschenbildes stehend, ging Beuys von einer unauflösbaren Verzahnung der Gesellschaft mit ihren Einzelgliedern aus. Was der Einzelne in das Gemeinsame einfließen ließ, sollte auf diesen selbst wieder zurückwirken – so dass die Sorge um das eigene Wohl zugleich eine Sorge um das Gemeinwohl beinhaltete.
Ohne die Esoterik der Antimoderne zu reaktivieren, lehrt dieses Beispiel eines: dass das gelingende Leben immer einen Doppelsinn enthält. Denn das Leben des Einzelnen gelingt, wenn es aus Rücksicht auf das Leben der anderen geführt wird. Dies ist die Grenze, an der sich das Design des Daseins zu orientieren hat. Und sie scheint heute aktueller denn je.