Inselmythen in der Geschichte und der Gegenwart…
Ein Essey aus dem Archiv des Deutschlandfunks
Das Foto gibt’s hier: Panoramic Images PAN436016
Quelle und zum anhören Utopischer Zukunftsstaat, Experimentierfeld der Aufklärung oder Zuflucht für Aussteiger: Eine Insel kann vieles sein. Immer wieder ist sie Gegenstand der Künste, um einige Inseln ranken sich mythologische Geschichten – und das seit Jahrhunderten.
Autorin: Sabine Appel
Inseln haben es in sich. Ob Elysium – Insel der Seligen –, ob Avalon, Utopia oder Neues Atlantis, um sie ranken sich sagenhafte Geschichten. Inseln haben Künstlerinnen und Künstler inspiriert und sind seit Jahrtausenden Gegenstand bedeutender Werke der Literatur, der Malerei und des Films. Auch dienten Inselaufenthalte, in der nahen Verbindung von Landmasse, Mensch und Meer, in der Geschichte oft Erkenntnissen der Forschung.
Bis heute verfangen die Inselmythen. Autorin Sabine Appel unternimmt eine Reise durch die Jahrhunderte.
„No man is an island, entire of itself. Every man is a piece of a continent, a part of the maine.“
„Niemand ist eine Insel, die nur aus sich selbst besteht. Jeder Mensch ist Teil eines Kontinents, Teil eines Ganzen.“
Das ist das Gedichtzitat eines Insulaners aus dem Jahr 1624, des englischen Schriftstellers John Donne in der Regierungszeit des ersten Stuart-Königs. Es waren unruhige Zeiten auf seiner Insel, und die Zeiten sollten noch unruhiger werden.
Die unlängst verstorbene britische Königin Elizabeth II. hat die Gedichtzeilen einmal in ihrer TV-Weihnachtsansprache zitiert. 2016, im Jahr der Brexit-Entscheidung, haben sie, von manchen Kommentatoren aufgegriffen, noch einmal eine besondere Bedeutung bekommen.
John Donne, der Dichter und Prediger, der noch die Epoche der Tudors in ihrer Spätphase in England erlebt hatte, spielt in seinem Gedicht mit den Bildern vom Festland und von der Insel, um den Zusammenhang jedes Einzelnen mit der ganzen Menschheit zum Ausdruck zu bringen und damit aber auch auf anderen Ebenen eine Verbundenheit zu versinnbildlichen; Europa wird in diesem Sinnbild einige Zeilen weiter ausdrücklich erwähnt. Offenbar war es eine naheliegende Assoziation für den Insulaner John Donne – der im Übrigen auch weit gereist war und die Welt außerhalb Englands nicht nur von der Landkarte kannte.
Es waren die Tudors, die den Mythos Britanniens als autarke Inselnation, die allen feindlichen Invasoren standhalten kann, mit Rückgriff auf diverse Gründungsmythen, unter anderem auch der Artus-Legende, geschaffen haben. Aber sie haben diese Autarkie nie so verstanden, dass sie sich als Nation von den damals wie heute dicht vernetzten Verbindungen zu Kontinentaleuropa losreißen wollten.
Heinrich VIII. von England, also ein Tudor, sei der erste Euroskeptiker gewesen. Das behauptet der Brexiteer und langjährige Vorsitzende der UKIP-Partei, Nigel Farage. Es ist barer Unsinn. Heinrich VIII. hatte sich lediglich vom Papst losgesagt, von der römisch-katholischen Kirche – wie wir wissen, aus äußerst persönlichen und prosaischen Gründen.
Und was die Geschichte Britanniens und ihre diversen Gründungsmythen betrifft, so ist es ja doch bemerkenswert, dass mitunter die Invasoren nachträglich zu Nationalhelden und damit auch zur Verkörperung des Inselreiches erhoben wurden, seien es nun die siegreichen Angelsachsen, die siegreichen Wikinger oder zum Schluss die Normannen unter William the Conqueror – einem Eroberer, wie der Name schon sagt. Soviel zur Autarkie eines Inselreiches im Meer der sich wechselseitig bekriegenden Mächte.
Aber das Bild hat im heutigen Großbritannien offensichtlich noch immer eine sehr starke Kraft. Ohne diese kollektive Identifizierung, gewachsen über Jahrhunderte und schließlich auch historisch bewährt, sei es im Kampf gegen Napoleon oder im Kampf gegen Nazi-Deutschland, hätten die Brexiteers ihre Kampagne womöglich nicht für sich entschieden.
Mit den Inseln hat es durchaus eine spezielle Bewandtnis, und sie sind verbunden mit zahlreichen Assoziationen, bis in unseren alltäglichen Sprachgebrauch. Eine Insel im stürmischen Meer ist ein vermeintlich geschützter Raum inmitten von Zudringlichkeiten, von Konflikten, von Feindseligkeiten, von Zumutungen, die das Leben bringt; ein Raum der Unschuld zudem. Wir sehnen uns nach dem Inselparadies – die Reiseindustrie lebt davon – oder haben dann und wann das Gefühl, „reif für die Insel“ zu sein.
Die Insel – mehr oder weniger weit vom Festland entfernt – liegt hinter dem Horizont, also hinter dem Horizont der Erwartungen und der Erfahrungen oder des gegenwärtigen Wissens. Neuland, ein Experimentierfeld – auch das verbinden wir mit der Insel, und das hat viel mit dem Pioniergeist der Frühen Neuzeit zu tun, der Zeit der Weltumsegler und der Entdeckungen. Mit dem Inselaufenthalt werden Träume von innerer Erneuerung verbunden, da die Abgeschiedenheit produktiv ist. Die Insel ist Zielort aller Zivilisationsflüchtigen, die modernen Aussteiger inbegriffen. Aber die Insel kann auch für ungesunde Abschottung stehen – John Donnes Gedichtzeilen haben das ja belegt.
Merkwürdiges, Faszinierendes, Grenzwertiges, Unheimliches und auch Verbotenes geschieht auf möglichst entlegenen Inseln. Man kann Erstversuche zur Verkehrsberuhigung auf ihnen machen, zum Beispiel auf Hiddensee, wo der private Autoverkehr verboten ist. Man kann Atombomben testen, Kranke isolieren, Verbrecher verstecken, Schätze vergraben, Sträflinge aussetzen oder sich unliebsamer Zeitgenossen entledigen, wie einst Bonapartes nach seinem Sturz, auf Elba und auf St. Helena. Man kann der Welt abschwören, Sünden verbüßen und Gott verfluchen, das Wetter beobachten, botanische Studien betreiben, in sich gehen, Achtbarkeitsübungen machen, Aquarelle malen, Drehbücher schreiben oder ein Militärgefängnis errichten, eine reine Gefängnisinsel wie Alcatraz an der US‑Westküste bei San Francisco.
Inseln sind Räume sozialen Experiments, des Abstands zum Alltagsleben, zur eigenen Vergangenheit oder zur Zivilisation allgemein. Sie stehen für Abgeschlossenheit oder für Abgrenzung, für Zeitlosigkeit und für die Dauer im Wechsel, für Geborgenheit und für Ausgrenzung, für Asyl und für tödliche Langeweile.
Das alles aber hat eine jahrtausendealte Geschichte.
Mit der Insel werden Paradiesvorstellungen, aber auch Schreckensbilder verknüpft. Sie kann ein Sehnsuchtsort sein oder ein Ort des Exils, der Verbannung, Ausdruck von Autarkie oder von Isolation – wie ja der Name schon sagt.
Isola bella – auf Italienisch: die schöne Insel. So heißt eine Insel im Lago Maggiore und auch viele andere, zumindest im Volksmund. Aber die Insel, wo immer sie sei, ist nicht zwangsläufig schön, nur weil sie fern, einsam und unberührt ist. Sie kann ein Ort der Wildnis sein und der Ödnis, von wilden Tieren und ebenso „wilden“ Menschen bewohnt, an deren Gestaden noch kein Mensch geweilt hat, der der bislang bekannten Welt angehört. Das macht sie zum Angstraum ungebändigter und archaischer Kräfte.
In der Odyssee von Homer sind es gefährliche und sogar todbringende Inselherrscherinnen, die geradezu männliche Urängste bedienen. Überhaupt wird das Eiland traditionell gerne mythisch und dichterisch mit dem Weiblichen assoziiert. Während die potenziellen männlichen Eroberer vergeblich an ihr zu stranden versuchen, brechen sich die Wellen an der Insel, aber sie selbst bleibt, die sie ist.
Je weiter die Zivilisation Europas voranschritt, umso mehr wurde die Insel indessen zur Projektionsfläche humaner Projekte. Auf der Insel werden utopische Vorstellungen von künftigen idealen Staaten verortet – wie im Inselstaat „Utopia“ von Thomas Morus, der den Utopien unserer jüngeren Kulturgeschichte, allen künftigen Utopien den Namen gab. Doch auch Bilder von zivilisatorischer Unschuld oder der noch gänzlich unbetretenen und daher gestaltungsfähigen „Terra incognita“ werden mit der Insel verbunden, etwa in der Zeit der Entdeckungsfahrten, als man sich anschickte, die Welt zu erobern, oder im bereits etwas zivilisationsmüden Aufklärungszeitalter, da man woanders, in wilder Ferne, ein verlorenes Paradies wiederfand, zum Beispiel auf Tahiti im Südpazifik. Alle üppigen Südseeträume nahmen hier erstmals Gestalt an. Und später, im Technikzeitalter, wurden Inseln sehr häufig zum Schauplatz von Dystopien, Untergangsstimmungen inklusive. Aber zurück zu den Anfängen.
Das Faszinosum entlegener Inseln am Rande der bewohnten Welt hatte bereits die Menschen der griechischen Frühzeit erfasst. Auf der wüsten und unbewohnten Insel Lemnos in der Ägäis hat das Griechenheer im Feldzug gegen Troja, so heißt es, den verwundeten Philoktet ausgesetzt, da sie seine Schmerzensschreie nicht mehr ertragen konnten. Neun Jahre muss er hier einsam verharren, bis die Götter seine glückliche Heimkehr beschließen. Im Kampf um Troja soll dem Helden dann noch eine herausragende Rolle zukommen. Alles wird also gut.
Eine andere griechische Inselgeschichte und ein stehendes Bild, vielfältig adaptiert: Ariadne auf Naxos, schlafend am Strand der Insel, wo sie schließlich der Weingott Dionysos findet. Die kretische Königstochter wurde hier von ihrem Geliebten Theseus zurückgelassen. Auch ihre Geschichte findet im Mythos ein glückliches Ende, wenn die Klagen der Ariadne um Theseus, den ungetreuen Geliebten, dem sie einst half, den Minotaurus zu besiegen, auch bleiben. Unfreiwillige Inselaufenthalte sind häufig Episoden der Prüfung, nicht nur in der Mythologie.
In der Odyssee von Homer, der Geschichte des Königs von Ithaka, der nach dem Trojanischen Krieg, bei der Heimfahrt von widrigen Winden zerschlagen, weil er den Meeresgott Poseidon erzürnte, zehn Jahre umherirrt und schließlich unerkannt als Bettler nach Hause kommt, gibt es gleich mehrere Abenteuer des Helden mit tückischen Inseln und ihren Bewohnerinnen. Es sind gefährliche und todbringende Verlockungen in Gestalt schöner Frauen, die auf den Inseln der Seefahrer lauern wie edle Raubtiere. Auf der Insel Ogygia verliebt sich die bestrickende Nymphe Kalypso in den schiffbrüchigen Helden Odysseus, den sie immerhin sieben Jahre lang auf ihrem Eiland festhalten kann. Für ein dauerhaftes Verweilen hat sie ihm sogar Unsterblichkeit versprochen, aber vergeblich – er reißt sich los.
Auf einer anderen Insel aber herrscht die mächtige Zauberin Kirke, und diese verwandelt die Gefährten des Odysseus in Schweine, bevor sie den ruhmvollen Helden selbst in ihr Bett beordert. Odysseus muss erst von Hermes, dem Götterboten, mit einem Kraut vor ihren Zauberkünsten geschützt werden, bevor er sich auf Kirkes Liebesspiele einlassen kann, doch er beklagt dennoch die Macht der bestrickenden Zauberin über ihn, da sie ihn seiner Stärke beraubt, ihn vom Wege abbringt – Zitat: „dass du mich wehrlos machst und raubst mir die Kraft und die Mannheit“.Freilich, das darf so nicht sein, denn Odysseus ist ja ein Held der Tat. Also, er muss auch Kirke und ihre Insel verlassen.
Auf den Sireneninseln schließlich wohnen Zwitterwesen aus Frauen und Greifvögeln, die die Vorbeifahrenden mit ihrem betörenden Gesang auf die Felsen locken, um sie dort zu zerfleischen. Odysseus lässt seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verschließen und sich selbst an den Mast des Schiffes binden, um dem Gesang der Sirenen lauschen zu können, ihren Gefahren aber nicht erliegen zu müssen. Auch dieser weiblichen Inselgefahr entkommt der Held tapfer und todesmutig auf seinem prüfungsreichen Weg in die Heimat.
Die Inseln auf der Irrfahrt Odysseus´ bergen diverse Gefahren, die allesamt mit sträflichem Müßiggang zu tun haben, mit Verweilen und passiver Hingebung im Spektrum von Eros und Thanatos, Liebe und Tod. Aber zum Glück gibt es für den sich selbst überwindenden Helden das offene Meer, das ein Terrain der Tat ist bei allen Unwägsamkeiten, ein Raum der Bewährung. Das ist ein abendländisches Narrativ. So gesehen, ist Odysseus der erste Aufklärer.
Pytheas von Massilia, ein griechischer Seefahrer und Geograph, beschreibt im vierten Jahrhundert vor Christus die sagenhafte Insel Thule, die weit, weit im Norden liegt, am äußersten Nordrand der Welt, dort, wo, so heißt es, Tag und Nacht jeweils sechs Monate dauern und die See dick und undurchdringlich für Ruder ist. Diese Insel liegt nicht mehr im gefälligen Mittelmeer, in der Ägäis, wie die mythischen Inseln der Odyssee, sondern im Nordmeer, im ewigen Eis. Auch die Römer erwähnen Thule, und Tacitus, der Geschichtsschreiber. Da der Name offenbar keltischen Ursprungs ist, und zwar etwa in der Bedeutung von „letztes Land“, könnte es sich dabei auch um eine Assoziation mit der keltischen Anderwelt handeln, um einen Schwellenort, Ort des Übergangs und der Verbindung von Menschen, Heroen, Ahnen und Göttern.
Ein anderer Inselmythos aus der griechischen Frühzeit, der bereits den wichtigsten Inhalt späterer Inselmythen enthält, nämlich die Vorstellung eines idealen Ursprungs, während die Insel hier aber zugleich ein Totenreich ist, jedoch ein göttliches Totenreich, wo die Unsterblichkeit winkt, stammt von dem Dichter Hesiod um 700 vor unserer Zeitrechnung, nach dessen Weltzeitalterlehre es einen sukzessiven Abstieg vom Goldenen über das Silberne und das Bronzene Zeitalter über die Zeit der Heroen bis hin zur prosaischen Jetztzeit gegeben hat, das Eiserne Zeitalter, die Zeit des Sittenverfalls und der Kriege.
Die Inseln der Seligen, die Hesiod konzipiert, das Elysium, ist zwar ein Totenreich, aber im Gegensatz zur antiken Unterwelt ist es ein lieblicher, rosengeschmückter Ort, an den die Helden entrückt werden, die von den Göttern geliebt werden und denen diese sogar Unsterblichkeit schenken, denn die Heroen kämpfen dafür, dass das Goldene Zeitalter nicht ganz vergessen wird oder sogar wiederkehren kann – irgendwie, irgendwann, aber diesmal durch menschliches Tun, klingt es an, nicht als Göttergeschenk. Die Vorstellung bleibt, und sie wird konstitutiv.
Atlantis, das versunkene Inselreich – ein Mythos, der noch immer verfängt, nicht nur im Film und in der Fantasy-Literatur. Forscherinnen und Forscher aus aller Welt versuchen bis heute herauszufinden, ob es das legendäre Atlantis, von dem Platon berichtet, tatsächlich gegeben hat, und wenn ja, wo es lag. Die Lokalisierungshypothesen reichen vom bronzezeitlichen Troja über Kleinasien und das Schwarze Meer, die Iberische Halbinsel, Sardinien, Sizilien, Nordwestafrika, die Britischen Inseln über Indien und die Bahamas bis zu Amerika und sogar der Antarktis.
Auf der griechischen Ägäis-Insel Santorin, wo 2011 die dritte internationale Atlantis‑Konferenz stattfand, gibt es ein Atlantis-Museum, in dem man in 3D-Qualität, mit virtuell glühenden Lavabrocken und sogar physisch mit aus Armlehnen spritzendem Wasser den Untergang von Atlantis hautnah erleben kann.
Dabei wird Atlantis nur in wenigen Zeilen in zwei Dialogen Platons erwähnt – gleichsam als Gegenbild zum platonischen Idealstaat, und das ist Ur-Athen. Als in sich gefestigter Modellstaat wird Ur-Athen, von der Göttin Athene gestiftet, neben das expandierende Atlantis gestellt, so dass es gut möglich scheint, dass an diesem imaginären Inselreich nur ein politisches Exempel statuiert werden soll.
Atlantis, so heißt es bei Platon, war eine prächtige und mächtige Seestadt, die große Teile Europas und Afrikas unterwarf, eine Insel, die außerhalb der „Säulen des Herkules“ lag und größer war als Libyen und Asien zusammen. Ihre Bewohner aber kannten kein Maß in ihrem Streben nach irdischer Macht, und sie fuhren immer weiter fort, die damals bewohnte Welt zu erobern. Auch ihr Reichtum stieg ihnen allmählich zu Kopf. Er verdarb ihre Sitten und ihren ehemals guten Charakter. So haben die Götter, heißt es, in einem großen Strafgericht in der Mitte des Weltalls, das ihnen eine Überschau aller Dinge gewährte, den Untergang dieses mächtigen Inselreiches beschlossen, da seine Bewohner anders nicht zur Vernunft kamen. Ihre Hybris – so die Moral der Geschichte – trieb sie ins Verderben, und das einst so prächtige Inselreich versank auf ewig in den Fluten des Meeres.
Der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon entwarf 1624 – das ist dasselbe Jahr, in dem sein Landsmann John Donne sein Gedicht schrieb mit den Zeilen, niemand sei eine Insel – eine Vision von Nova Atlantis, Neu-Atlantis. Dieses wird von einer Gruppe von Seefahrern entdeckt, die auf dem Weg von Peru in den fernen Osten sind und in Seenot geraten, zum Glück aber Land sehen und dort glücklich anlegen können. Auf der entlegenen, unbekannten Insel am Rande der bewohnten Welt, auf die sie gestoßen sind, finden die staunenden Reisenden eine autarke Hochkultur, strenge Sitten und ein blühendes Staatswesen, eine friedliche und humanitär ausgerichtete Zivilisation und einen hohen Stand der wissenschaftlichen Forschung, die sich durch Arbeitsteilung auszeichnet und in einer fortschrittlichen Wissenschaftsakademie konzentriert.
Die insularische Abgeschiedenheit führt im neuen Atlantis zu einer Konzentration der Kräfte, zu Maßhaltung und Selbstgenügsamkeit, wie sie ja schon Platon dem Staatswesen und seinen Bürgern riet, und zur Ausbildung bürgerlicher Tugenden, die alles zusammenhalten.
Aber auch diese neu-atlantischen Insulaner sind keineswegs feindlich gegenüber der sie umgebenden Welt eingestellt, was man schon daran erkennt, dass sie die fremden Seefahrer überaus freundlich empfangen. Hin und wieder entsenden sie Forschungsreisende, wie die Gäste erfahren, die inkognito in die bekannte Welt reisen, um von ihren wissenschaftlichen Errungenschaften zu profitieren – wenngleich sie in den meisten Bereichen auf ihrer Insel, wie immer wieder betont wird, bereits viel weiter sind. Die Forscher werden „Lichtbringer“ genannt – eine Vorausnahme der Lichtmetapher der Aufklärung. Sie sammeln alles ein und bringen es nach Hause zur Ernte.
Dass Inseln nicht per se rückständig sind, sondern im Gegenteil kulturell ungemein profitieren können, wenn sie etwa durch ihre Lage im Meer von Handels- und Forschungsreisenden aus allen Weltgegenden passiert und angelaufen werden, zeigt zum Beispiel die Geschichte der Insel Gotland in Schweden. In der frühen Hansezeit diente Gotland den Hansekaufleuten als Zwischenstation für den Russlandhandel, und Visby, die Hauptstadt der Ostseeinsel, wurde eine blühende Hansestadt. Gotland besitzt außerdem eine eigene nordische Inselsage, die „Gotland-Saga“, auch die „gotländische Edda“ genannt, in Anlehnung an eine andere nordische Inselsage, die Götter- und Heldenlieder Alt-Islands.
1766, als der französische Offizier, Wissenschaftler und Schriftsteller Louis Antoine de Bougainville im Auftrag der französischen Regierung unter König Ludwig XV. mit seiner Marinefregatte „Boudeuse“ zu einer Weltumsegelung aufbrach – der ersten durch einen Franzosen –, glaubte man in Europa zwar ungebrochenen an den zivilisatorischen Fortschritt durch Wissen, Naturbeherrschung und Weltkenntnis. Es war ja die Hochzeit der europäischen Aufklärung. Aber ähnlich wie bei Hesiod 2500 Jahre zuvor hatte man das Gefühl, dass die gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsverfassungen mit ihren Konfliktherden, ihren Kriegen, ihren Ständegesellschaften und vor allem ihrem inneren Verfall sich in einem Zustand der Überreife befanden und dass sie einer gewissen Rückorientierung bedurften, um sich erneuern zu können, ja um noch zukunfts- und überlebensfähig zu sein. Jean‑Jacques Rousseau hatte das 16 Jahre zuvor in seiner zivilisationskritischen Schrift Diskurs über die Wissenschaften und Künste auf geradezu radikale Weise zum Ausdruck gebracht.
Der Naturzustand der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit, soviel war klar, wenigstens nach Rousseau, war unwiederbringlich verloren. Aber vielleicht gab es woanders, in weniger zivilisierten Weltgegenden, noch Spurenelemente davon. Eine Art schönen Urzustand.
Ein solches Paradies auf Erden, wie es das alte Europa nur in seinen gefälligsten Träumen bewahrte – und meist waren diese Träume rückwärtsgewandt; sie beschworen Arkadien, das Goldene Zeitalter – fand Bougainville auf Tahiti in Süd‑Polynesien.
Das Leben schien hier ein Fest; mit nur leicht bekleideten Menschen in einem wonnigen Klima und üppiger Vegetation, die alles hervorbrachte, was man zum Leben brauchte. Den gestrandeten Gästen werden die Häuser geöffnet, Tafeln und Liebeslager bereitet, begleitet von Gesang, Flötenklängen und Blütenregen. Bougainvilles Reisebericht, der in den Salons von Paris ein Bestseller wurde, transportierte das Versprechen eines Lebens in Frieden, Freiheit und Gleichheit am Vorabend der Französischen Revolution.
Das Bild von Tahiti stimmte so natürlich nicht. Diderot hat später einen differenzierten Nachtrag zu Bougainvilles Reisebericht publiziert. Aber das schöne Bild inspirierte die großen Erneuerungsbestrebungen der Epoche. Arkadien hat dafür immer Pate gestanden.
Captain Cook, der ebenfalls auf Tahiti war, nur wenige Monate vor Bougainville, schreibt im Übrigen nichts von solchen üppig-erotischen Anschauungen oder Erlebnissen mit den eingeborenen Inselschönheiten. Überhaupt entwarfen die inselkundigen Engländer, die glorreiche Seefahrernation, deutlich andere Inselmythen im Kontext der europäischen Aufklärung als die Franzosen.
Der Roman Robinson Crusoe von Daniel Defoe, 1719 erschienen, ist ein einziges Plädoyer für die praktische Lebensbewältigung, Selbstertüchtigung und Aneignung von Welt, indem die Urbarmachung der anfangs so wüsten und öden Insel für nichts Geringeres als einen menschlichen Schöpfungsakt steht. Eine gewisse Rechtfertigung eines – human ausgerichteten – Kolonialismus ist darin ebenfalls zu erkennen.
Die innere Geschichte des Robinson Crusoe ist außerdem durch und durch protestantisch grundiert. Gottes unergründliche Wege manifestieren sich in ihr über die Providenz und die Gewissensprüfung des Individuums. Eine Insel auf seiner Insel ist Robinson eben doch. Als er diese nach 28 Jahren verlässt, wird er jedoch zum Siedler und damit zum Kulturstifter, den die Vorsehung noch mit unerwartetem Reichtum belohnt.
Aber noch einmal zurück nach Tahiti und seiner sinnlichen Szenerie. Es war kein Franzose, sondern ein Deutscher, der Prinz von Nassau, der mit an Bord der „Boudeuse“ Bougainvilles war und der, wie es scheint, als Erster die freie Liebe der Tahitianerinnen genoss. Sie zogen ihn in eine Schilfhütte, schreibt er, und rissen ihm dort gleich die Kleider vom Leib. Vielleicht hofft der eine oder andere Alleinreisende, der heute eine Reise nach Tahiti bucht, „tout-compris“, mit Abflug Paris, dass ihm das auch passiert.
Rückwärtsgewandte Konzepte von Inselstaaten, die den zersetzenden Zeitläuften etwas Intaktes und Bewahrenswertes entgegensetzen, entstanden in der vorrevolutionären Ära hingegen noch öfter. Jean-Jacques Rousseau schrieb einen Verfassungsentwurf für Korsika, in dem so ziemlich alles in Bausch und Bogen verdammt wird, was mit der modernen Welt und dem Fortschritt in Zusammenhang steht: Geld, Industrie, Handel, wissenschaftlicher Austausch, Kulturleben, intellektuelle Zirkel, Forschung und Technologie, Großstädte, Reisen, also Mobilität, Weltkenntnis – im Sinne einer sittlichen Rückorientierung.
Es gab noch viele Inselgeschichten, und es gibt sie bis heute. Der romantische Maler Caspar-David Friedrich schuf in seinem „Mönch am Meer“ vor der imposanten Kulisse der Insel Rügen mit ihren Kreidefelsen ein Bild der existenziellen Einsamkeit des Menschen angesichts des Erhabenen. Es gab Sozialutopien und technische Utopien. Immer wieder wird auch Atlantis wiedergefunden.
Gerhart Hauptmann entwarf in seinem Roman Die Insel der Großen Mutter 1924 die Vision eines Matriarchats, die aber auch Beklommenheit auslöst. Der Film „Die Insel“ aus dem Jahr 2005 zeigt hingegen das futuristische Angstbild einer verseuchten Welt, in der sich einige Überlebende nur noch auf einer künstlichen Insel in einer unterirdischen Anlage retten können, in der Klone gezüchtet werden. Seit die Untergangsszenarien der menschlichen Gattung auf diesem Planeten real werden und eine globale Form annehmen, stellen auch Inseln keinen verlässlichen Schutzraum mehr da.
Morus´ Utopia, 1516 entstanden, – wörtlich ein „nicht-Land“ – verweist leider an manchen Stellen auf den real existierenden Sozialismus mit seiner Gleichschaltung, seiner Abschottung und seinen Repressionen. Nicht alle Inselutopien sind wirklich verheißungsvoll.
Und heute? Wir träumen noch immer vom Inselglück, unserem persönlichen Paradies, und wenn es nur für zwei Wochen Auszeit ist. Möglichst all-inclusive, versteht sich. Wer es sich leisten kann, macht ein Insel-Hopping – auf den Fidschi‑Inseln zum Beispiel, von Insel zu Insel mit dem privaten Flugzeug oder dem Helikopter. Einige Inseln, unter anderem in der Südsee, werden dem Klimawandel zum Opfer fallen; soweit die sehr realen Untergangsszenarien der insularischen Paradiese in sehr naher Zukunft.
Die größte Insel der Erde ist Grönland mit über zwei Millionen Quadratkilometern, gefolgt von Neuguinea im Westpazifik, dann von Borneo und Madagaskar im Indischen Ozean. Großbritannien kommt flächenmäßig an achter Stelle.
Eine legendäre Inselherrscherin, die tatsächlich gelebt und 40 Jahre lang überaus erfolgreich regiert hat, ist übrigens Elizabeth I. von England, Elizabeth Tudor. Sie nannte sich die „Virgin Queen“, die Jungfräuliche Königin, was sich auf ihren lebenslang unverheirateten Status bezieht, mit dem sie aber frappierend erfolgreiche Politik machte und mit dessen Hilfe sie vor allem den Mythos vom autarken Inselreich schuf.
Als der mächtige König Philipp II. von Spanien mit seiner Armada zur Invasion Englands anrückte, rief sie, im Brustpanzer wie eine Amazone und hoch zu Ross, ihren Truppen in Tilbury zu: „Ich spotte der Vorstellung, dass Parma oder Spanien oder irgendein Fürst Europas es wagen sollte, in die Grenzen meines Reichs einzudringen.“ Philipps imposante Armada wurde im Ärmelkanal von den wendigen englischen Schiffen von der Breitseite angegriffen und schließlich im Sturm in alle Winde verstreut.
Soweit die Inselmythen, die zuweilen historisch real werden.
Aber: „Niemand ist eine Insel.“Das sagte Elizabeths Zeitgenosse John Donne, und ihre gleichnamige Nachfolgerin auf dem Thron wiederholte es in unserer Zeit. Das Zitat ist vielleicht ein Vermächtnis der Zukunft.
Autorin: Sabine Appel, geboren 1967, promovierte 1995 an der Universität Heidelberg. Sie ist freie Buchautorin mit Schwerpunkt Europäische Ideengeschichte. 13 Publikationen, u. a. über Goethe, Nietzsche und Schopenhauer, Luther und Heinrich VIII., Katharina von Medici und Madame de Staël. Zuletzt erschienen: „Unser Rousseau. Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete“