Wann Putins Krieg ein Ende hat…

Zaren-Kanone St.Petersburg © Copyright Karl-Heinz Hänel

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew: Interview mit dem Deutschlandfunk…

Wie geht es weiter mit Russland? Im Deutschlandfunk anhören


Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew und Osteuropa-Expertin Sabine Adler im Gespräch, simultan übersetzt von Irina Bondas…

Essay und Diskurs – 18. Juni 2023

Der Krieg beansprucht den gesamten Raum der Zeit. Alle gewohnten Gewänder sind verschwunden, die Lebenden und die Toten, die Richtigen und die Falschen sind gleichermaßen nackt. Aber der Krieg kennt keine Scham.

Ciconia circonia Verlag ISBN 978-3-945867-51-8

Es ist nicht die erste Begegnung des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew mit der Osteuropa-Expertin des Deutschlandradios Sabine Adler. Sie pflegen ihren Austausch nach dem Motto: Wenn zwei sich streiten, können sie trotzdem einer Meinung sein.

Russlands befindet sich im zweiten Jahr des Krieges gegen die Ukraine. Bei der Verurteilung des Krieges und der von Präsident Putin als Aggressor sind sich Viktor Jerofejew und Sabine Adler einig. Aber ansonsten schauen der Erfolgsschriftsteller und die Radiojournalistin sehr verschieden auf den blutigen Konflikt. Auch bei den Zukunftsaussichten für Europa und seinen großen Nachbarn Russland trennen sie Welten.


Welche Lehren sind aus dem Kriegsverlauf zu ziehen und welche Zukunft halten beide angesichts der momentanen Situation für möglich? Ein Nachdenken über hoffnungslose Pattsituationen und über den Wunsch, auf internationaler Ebene über Auswege zu verhandeln.

Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen Roman „Die Moskauer Schönheit“. Er ist Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe und schreibt regelmäßig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ , DIE WELT und mare.

Nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine floh Jerofejew im Frühjahr 2022 mit seiner Familie nach Deutschland. Zuletzt erschien „Enzyklopädie der russischen Seele“ (2021).
Sabine Adler, geboren 1963 in Zörbig, berichtet über Russlands Krieg gegen die Ukraine für die drei Programme des Deutschlandradios. Sie war fünf Jahre Korrespondentin aus Moskau, danach Leiterin des DLF-Hauptstadtstudios in Berlin sowie Korrespondentin im Studio Warschau mit Schwerpunkt Polen, Belarus, baltische Länder und Ukraine.

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Roman von Victor Jerofejew

Fluss

Am Anfang des Reisens war der Mythos der Orte. Die Wunschwelt der Anfänge, unverbrauchte Paradiese auf einer imaginären Landkarte der Träume. Doch auch in der Moderne blühen die Mythen. Rainer Maria Rilke, die gebürtige Petersburgerin Lou Andreas Salome an seiner Seite, meinte noch 1900 in Russland das „Land der patriarchalen Urgründe“ zu erblicken. Gaugin suchte in der Südsee das real existierende Paradies. Joseph Conrad trieb die Sehnsucht nach den Gefilden der verlorenen Unschuld in den afrikanischen Kongo. Doch statt des Paradieses fanden Conrad und Gaugin die Hölle. Gaugin bannte den verlorenen Garten Eden wenigstens in die tropische Farbenpracht seiner Bilder. Conrad erschuf aus seinem Südseetrauma den modernen Mythos der Entdeckungsreise, die zur Expedition ins eigene Innere wird – am Ende der Irrfahrt durch die Landschaften des Ego steht nun das Grauen.

Barbara Lehmann | 18.11.1998

Dem deutsch-russischen Schriftstellerpaar Viktor Jerofejew und Gabriele Riedle ist selbst dieser Ausweg verstellt. Das Ich ist in der Postmoderne bekanntlich ohnehin eine Illusion; der Reisende wechselt je nach Ort fröhlich die Masken. Im realen Leben mag der Diplomatensohn Victor Jerofejew der erste internationale Beststellerautor des Neuen Rußlands sein, ein Pionier der russischen Postmoderne und selbsternannter „Literat des Bösen“. Gabriele Riedle hat sich als Kulturredakteurin der „TAZ“ und bissige „Zeit“-Magazin-Kolumnistin einen Namen gemacht; ihre Erzählungen sind verstreut in den Hochglanzjournalen von“Spiegel bis „Geo“. Bei dieser schrägen deutsch-russischen Schriftstellerliason ist einer indes vor allem das Phantasma des anderen. Zwar bereisen sie ganz real und nicht immer ganz ohne Beschwerden die fünf großen Flüsse dieser Welt – die Wolga, den Rhein, den Ganges, den Mississippi und den Niger. Doch bei der Niederschrift verwandelt sich die kühne Fahrt durch 12 Länder und 4 Kontinente zu einem halb phantastischen, halb exhibitionistischen Schaustück. Im spöttisch-ironischen Wechselgesang zweier Stimmen inszenieren sie sich auf ihrer imaginären Reise-Bühne als exzentrisches Sado-Maso-Liebespaar, um sich dann irgendwann aufzulösen im Energiefluß der Kulturen: Mal posiert „Er“ als ewiger Russe, und „Sie“ huscht als das charmante Fräulein Germania vorbei , dann gerät „Er“ als „Lorelei in Hosen“ ins Bild, und „Sie“ entsteigt als die ewig ungeliebte Tochter eines Ex-Nazis den Fluten des Rheins. Dann ist „Er“ Rilke und „Sie“ Lou, aber vielleicht ist’s auch umkehrt. Egal, was soll’s, am Ende haben sie sich eh in Wanderfliegen inkarniert, die wahrscheinlich noch immer durch die afrikanische Wüste schwirren. „In diesem Buch herrscht die Ästhetik des reinen Zufalls“, erläutert Victor Jerofejew. Als ob man aus einem Sack einen völlig fremden Menschen hervorzieht, wie die Katze aus dem Sack, wie man in Rußland sagt. Wir kannten einander nicht, wir waren einander völlig fremd. Keiner kannte den Charakter des anderen, seine menschlichen Qualitäten, seine Emotionen. Und diese einander völlig fremden Menschen lassen sich auf das größte Risiko ein, was man sich im Leben erlauben kann: eine Reise. Vielmehr eine Zeit erzwungener Nähe; notgedrungen geht man auf dieselbe Toilette, pißt wodkatrunken ins Wasser. Diese Bloßlegung von Details verwandelt sich in eine große metaphysische Angelegenheit, die zeigt, daß sich der Zufall in der Welt in eine emotionale Katastrophe verwandeln kann – ebenso wie in emotionale Nähe.“

Gabriele Riedle dazu: „Wir haben beide, ich auf meine, er auf seine Weise, unser eigenes Leben sozusagen in die Wagschale geworfen und das auch wieder als Material benutzt: Die ganze Anlage funktioniert ja so, daß nicht nur, wie Victor eben gesagt hat, er erlaubt hat, und ich ihm erlaubt habe, also wir uns gegenseitig erlaubt haben, in unsere Texte reinzugehen, sondern wir sind ja gleichzeitig auch Objekte geworden: Es gibt ein Autoren-Ich – einer, der tatsächlich schreibt als real existierende Person – dann gibt’s das ‘Ich’, das dort ‘Ich’ sagt, und dann gibt’s den jeweils anderen, der über die Person, die ‘Ich’ sagt und die tatsächlich existiert, wiederum was Drittes sagt. Das ist eine außerordentlich komplizierte Angelegenheit, und durch diese drei Brüche ist das Autobiographische als Konzeption fast schon verschwunden.“

„Dennoch ist es ein Skandalbuch“, so Jerofejew. „Als meine Mutter es gelesen hat, fragte sie mich: ‘Hast du wirklich der Deutschen in den Mund gepinkelt? Auf dem Mississippi?’ Ich habe gesagt: ‘Na ja, nicht in den Mund direkt!’ Der Roman ist nicht einfach eine Flucht vor autobiographischer Transparenz. Jeder Folgesatz garantiert mitnichten die Glaubwürdigkeit des vorhergehenden. Zwischen dem Pissen in den Mund und der Erschießung in der Stadt Gao am Niger besteht kein großer Unterschied, doch dieser Unterschied kann das Leben kosten. Deshalb muß der Leser für sich selbst den Grad des Autobiographischen bestimmen. Er wird somit zum Koautor und Voyeur: während er das Buch liest, lugt er nebenbei auch durch den Türspalt der Frauen-Banja oder der Toilette. Das macht die Provokanz des Buches aus, hier wirkt das System einer glitzernden Ästhetik: mal ist etwas Wahrheit, dann wird’s zum Gespenst, ständig wechseln die Farben.“

Denen, die sowieso immer schon vorher da waren, bescherten die Flüsse einst das „Wunder einer neuen Offenbarung“. Die belesenen Kulturreisenden Victor Jerofejew und Gabriele Riedle haben selbstverständlich zu jedem Ort passend die alten Mythen und berühmten Reisebilder parat, um sie allerdings sofort mit bissiger Ironie zu demontieren. Zeiten und Räume wirbeln so in scharfen Schnitten durcheinander; das unmittelbar Erlebte und real Geschaute vermischt sich mit den bis zum Überdruß bekannten schriftlich fixierten, auf Zelluloid und die Leinwand gebannten Preziosen des Weltmuseums. „Es gab irgendwann mal den Gedanken: wir fahren los, wir machen uns zu einer zweiten Entdeckungsreise auf“, erzählt Gabriele Riedle. „Die Welt ist entdeckt und wir entdecken sie jetzt noch mal neu, aber mit dem Wissen, daß eben alles schon entdeckt ist, daß überall Mythen versammelt sind, daß überall Bilder und Stereotypen und Phantasmen unterwegs sind, die alle schon da sind. Wir entdecken noch mal, nachdem klar ist, daß es eine jungfräuliche Gegend nicht gibt, die Gegend, die durch die gesammelten kulturellen Stereotypa gebildet worden ist.“

Und Victor Jerofejew ergänzt: „Das war die eigentliche Entdeckung: jene kontrastreiche Sehweise, wenn zwei Menschen die Dinge vollkommen gegensätzlich sehen. Daraus entsteht das Gefühl gegenseitiger Sympathie und Verstehens bis zur vollständigen Entfremdung und Haß und einem deutsch-russischen Krieg, der metaphorisch natürlich in den Krieg der Gefühle übergehen muß. Was im Roman auch passiert. Deshalb bildet der Krieg der Gefühle die Grundlage des Romans. Zwei Dinge sind passiert: der Zusammenstoß zweier Zivilisationen, der russischen und der deutschen und eine neue Art des Reisens durch die fiktiven Figuren, ihre Virtualität.“ Die Wolga? Für Victor Jerofejew, den Russen, eigentlich nur eine „patriotische Pflichtveranstaltung“. An ihrem Ufer „stehen die Gespenster bärtiger russischer Schriftsteller“, die „Sodbrennen haben vor lauter Mitleid mit dem Elend des Volkes.“ „Sie“ mokiert sich derweil über das russische Fräuleinwunder: „Jede Frau eine prachtvolle Präsentation sämtlicher Archetypen weiblicher Kleidung, auf dem Haupt enorme Schleifen als Krönung der Geschenkverpackung.“

„Den alten Musterknaben, Doktor Rhein“, wie „Er“ spöttisch anmerkt, absolvieren die zwei dann vorwiegend schweigend, als deutsch-russisches Spießerpaar. Für „Sie“ ist die Rheinreise eine eher traumatische Rückkehr in Adenauers spießig-verklemmte Wirschaftswunderzeiten, für „Ihn“ ist die Fahrt auf dem Nobeldampfer „Deutschland“ schlichtweg die „Antireise“ auf einem „schwimmenden Seniorenheim.“ In Indien verwandelt „Er“ sich in einen beischlafabstinenten Pilger mit Halskette in blaßrosa Lumpen, „Sie“ sitzt unterdessen als meditierende Statue „im Lotussitz inmitten des eiskalten Ganges auf einem Stein.“ Auf dem Mississippi, der in einen „zweiten Dornröschenschlaf“ gefallen zu sein scheint, erinnert das Leben an einen „verschleppten Familienskandal“. Am Flußufer zieht Margret Mitchells und Julien Greens versunkene Welt des Südens – Pferdekutschen, Baumwollfelder, Herrenhäuser – in „dampfender Sklavenhalterpracht“ vorbei. Einzig unter der afrikanischen Wüstensonne zerschmilzt die Spottlust des exzentrischen Paars. War es vielleicht doch , in George Steiners schöner Formulierung, die Sehnsucht nach „dem Sprung in den Sinn“, welche die beiden Rast- und Ruhelosen durch fünf Länder und vier Kontinente trieb ? „In Afrika zählt diese ganze postmoderne Konzeption nicht, weil das ein europäisches Phänomen ist“, so Gabriele Riedle. „Und wenn sie sich auf den Weg machen, dann merken sie sehr bald, daß diese europäischen Phänomene gar nichts zählen im Rest der Welt. Und die Zukunft ist wahrscheinlich – ich komme noch mal zurück auf dieses Niger-Kapitel-, es ist nicht nur eine Reise ins Paradies oder in die Hölle oder wohin auch immer, sondern natürlich auch eine Reise in die Zukunft. Insofern, daß sie tatsächlich diese konkreten Gewißheiten oder auch dieses leichtfertige Spiel, was sie in Europa sehr gut spielen können, weil ihnen alle Begriffe zur Verfügung stehen, nicht mehr spielen können, weil eine ganz andere Form von Realtät auf einmal stattfindet. Es gibt dort reale Götter, da können sie sich auf den Kopf stellen, die sind nun mal da, die gibt’s woanders nicht, die gibt’s nicht in Europa, die sind auch nicht exportierbar, aber dort sind sie existent. Und was machen sie da mit ihrem postmodernen Begriffsapparat?“

Victor Jerofejew beantwortet diese Frage auf seine Weise: „Dies ist die Literatur des 21. Jahrhunderts. Man muß sich gut waschen in verschiedenen 5 Flüssen, um sich von der Scheiße des 20. Jahrhunderts zu reinigen, und ins 21. Jahrhundert hinüberzugehen wie nach einer Waschung, mit einem Gefühl wie nach der Banja.“

Über Karl-Heinz Hänel

Ich bin freier Reise- und Bild-Journalist, content creator und ein PR-Multiplikator, unterhalte meine Leser mit Product Placement und erzähle Geschichten in Wort und Bild, die ich selbst erlebt habe. Dafür bin ich redaktionell verantwortlich. Alle Angaben gemäß § 5 TMG finden Sie im Impressum und in meiner Vita
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