Zum Gedenken an den Journalist Karl-Hugo Dierichs

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Am 1.Mai 1929 wurde Karl-Hugo geboren…

Karl-Hugo Dierichs war auch nach über 50 Jahren als fester Redakteur und Reporter weiter als Freelancer für große Tageszeitungen auf Reisen.

Sein Motto lautete „Reisen hält jung“. Wer ihn näher kannte, wird es bestätigen. Er lebte in Wuppertal.

Mit seiner letzten großen Reisereportage erzählte er den Lesern von Moldawien, dem Land, dass Putin sich auf am liebsten unter den Nagel reißen würde … mehr von Karl-Hugo Dietrichs in diesem Blog

lmpressionen einer Reise durch das letzte unbekannte Stück Europa

Ärmste Region Europas – bewegte Vergangenheit

Der Übergang von Moldawien nach Transnistrien erinnert an finstere Ostblockzeiten: eine Grenze mit Schranken, Soldaten, Baracken und Fotoverbot. Wir müssen den Bus verlassen. Die Abfertigung klappt erstaunlich schnell. Der Pass wird gescannt und mit gedruckter Besuchserlaubnis zurückgereicht. In der bisher nur von Russland anerkannten abtrünnigen Pseudorepublik mit eigenem Parlament, Militär und mit Rubelwährung ist die untergegangene Sowjetunion noch allgegenwärtig.

Weil die überwiegend russischsprachige Bevölkerung Moldauisch (Rumänisch) als einzige Amtssprache ablehnte, koppelte sich Transnistrien 1991 von Moldawien ab, das bis 1940 als Bessarabien zu Rumänien gehörte. 1992 kam es zu Auseinandersetzungen. Dabei starben mehrere hundert Menschen. Erst der Einmarsch der 14. Russischen Armee beendete den blutigen Konflikt an der Grenze zur Ukraine. Seitdem sind Truppen stationiert.

Breite Alleen, große Aufmarschplätze und üppige Grünanlagen prägen das Stadtbild der „Hauptstadt“ Tiraspol (145.000 Einwohner) am Ufer des Dnjestr. An der „Straße des 25. Oktober“ findet sich sowjetische Prunkarchitektur wie an einer Kette aufgereiht. Alles überragt der Rathausturm mit rotem Sowjetstern. Der 1956 vollendete Bau mit Zehn-Säulen-Portal steht für „stalinistischen Empirestil“. Klassizistische Züge prägt das Staatstheater von 1934. Vor dem Regierungs- und Parlamentsgebäude, bis heute Sitz des „Obersten Sowjets“, thront Lenin auf hohem Sockel. Auf dem Hügel gegenüber erhebt sich die Heldengedenkstätte mit ewiger Flamme. Im Schatten eines T-34 Panzers ruhen Gefallene aus Afghanistan und dem Bürgerkrieg. Große Tafeln an der Fassade des Nationalmuseums tragen ihre Namen.

Der goldene Turm und die bunten Fresken der 2011 errichteten Georgs-Kapelle hellen die eher düstere Szene auf. Das Diplomatenviertel ist überschaubar: ein unscheinbares Haus mit den Botschaften und Flaggen Südossetiens und Abchasiens, ebenfalls Länder, die völkerrechtlich nicht existieren und auf keiner Landkarte verzeichnet sind.

Moderne Architektur prägt das Fußballstadion „Sheriff“. Zur Firmengruppe, die von zwei Ex-Polizisten gegründet wurde, zählen u. a. Supermärkte, Tankstellen, Hotels und die Weinbrandbrennerei „Kvint“. Die Destillerie in der Leninstraße krönt jede Stadtrundfahrt und schmückt als nationales Symbol die Fünf-Rubel-Note. Schier endlose Gänge führen zu den deckenhohen Eichenfässern im Keller, wo der Edelschnaps bis zur Reife lagert. Wie er mundet, wird bei einer ausgedehnten Probe mit Brot und Schinken stilecht zelebriert.

Fünfmal kreisen Flaschen diverser Altersstufen die Runde, vom Fünfjährigen bis zum 50-jährigen Jubiläumsbrand „Fürst Wittgenstein“. Kvint, 1897 zur Zarenzeit gegründet, startete mit Wodka und Wein und weitete 1938 die Produktion auf Weinbrand aus. Der wurde so lange als Cognac vermarktet, bis die Franzosen auf ihr alleiniges Markenrecht pochten. Jährlich werden 20 Millionen Flaschen alkoholischer Getränke abgefüllt, darunter 30 verschiedene Brände. Besucher können sich vor Ort preiswert eindecken.

Eine Büste des Fürsten von Wittgenstein, der in den Befreiungskriegen 1812-13 als Retter von St. Petersburg gefeiert wurde, ist vor den Mauern der nahen Festung Bender aufgestellt. Das von den Osmanen um 1500 erbaute Bollwerk wurde mehrfach belagert. Auch von Baron von Münchhausen als Offizier in russischen Diensten, wie Urkunden im Festungsmuseum belegen. Sein legendärer Ritt auf der Kanonenkugel ging als Lügengeschichte in die Literatur ein.

Festung Bender: Baron von Münchhausens Kanonenkugel Foto: Karl-Hugo Dierichs

Das sieht man in Bender anders und verweist auf das schwere, gusseiserne Geschoss im Eingangsbereich. Die Touristen erobern es als Fotosouvenir. Unter den Zinnen und Türmen der Wehranlage breitet sich die grüne Auenlandschaft des Flusses aus. Der Festungsbereich untersteht der russischen Militärverwaltung.

Wir speisen in einer ukrainischen Gaststätte. Unsere Begleiterin Larisa schwärmt schon auf der Hinfahrt von den köstlichen mit Aprikosen gefüllten Teigtaschen. Sie hatte nicht übertrieben. Immer neue Platten mit Obst-, Schafskäse-, Fleisch- oder Gemüsevarianten bedeckten die Tafel. Mit duftendem ofenfrischem Weißbrot, Mama Liga (Weißmehlbrei) und Nachtisch aus Blätterteigrollen ein typisch moldawisches Gericht. Schnaps zum Abschluss fördert die Verdauung.

Die Oberleitungsbusse in Tiraspol verbreiten die Parole „In Zukunft gemeinsam mit Moskau“. In Moldawien tendiert die Richtung nach Rumänien, wie großflächige Plakate an der ewig verstopften Ausfallstraße von Chisinau in Richtung Ukraine künden. Der Wunsch nach dem Anschluss ans Nachbarland bestimmt Wahlkämpfe und politische Debatten. Er nährt zugleich den Traum von Annäherung und späterer Aufnahme in die EU. Das, so die Befürworter, könne viele Probleme des kleinen Landes lösen, das 80 Prozent seiner Fläche landwirtschaftlich nutzt und zu den ärmsten Regionen Europas zählt. Das monatliche Durchschnittseinkommen beträgt 200 Euro.

Unendliche Maisfelder, Äpfel-, Pfirsich- und Aprikosenplantagen dehnen sich auf den fruchtbaren Schwarzerdeböden der weiten Ebenen zwischen Pruth und Dnjestr. Alleen von Walnussbäumen säumen Straßen und Wege. Im milden kontinentalen Klima der sanften Hügellandschaft wächst der Wein. Moldawien war die Weinkammer der Sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft (Comecon). 80 Prozent der Produktion stillte die durstigen Kehlen der Sowjetbürger. Die Anti-Alkohol-Kampagne unter Gorbatschow führte zu schmerzhaften Einbußen. 2006 kam es noch härter.

Russland stoppte die Einfuhr aus Moldawien und Georgien. Die Einschnitte führten zum Umdenken. Klasse statt Masse, dazu mehr trocken als lieblich, eine Qualitätsoffensive soll den steinigen Weg in die Gaumen der verwöhnten Weinliebhaber Westeuropas ebnen. Derzeit ist China größter Konsument. Mit 180 Betrieben, 140.000 Hektar Rebfläche und 1,2 bis 1,5 Millionen Hektolitern hält Moldawien Platz zehn der Weltrangliste. Nicht eingeschlossen sind die Quoten der Selbsterzeuger. Presse, Bottich und Fässer stehen in jedem Bauernhaus.

Weltkulturerbe unterirdische Weinstadt

Im ehemaligen Staatsunternehmen Cricova in der Nähe der Hauptstadt führen 70 Kilometer befahrbare Kalksteinstollen bis in 100 m Tiefe, wo der Wein bei 90 Grad Luftfeuchtigkeit und 12 bis 14 Grad Celsius in Fässern und Tanks bis zur Abfüllung reift. Die zum Weltkulturerbe geadelte unterirdische Weinstadt ist Gigantismus pur. Verkehrsampeln und Schilder sichern das Straßennetz, leiten Besucherbusse und Lieferfahrzeuge durch das Labyrinth der mit diversen örtlichen Lagen gekennzeichneten Merlot-, Chardonnay- oder Cabernet-Sauvignon-Straßen.

Kunstvolle Mosaiken, Bilder und Brunnen schmücken die Wände der Gewölbe. Die Sammlung mit 1,5 Millionen Flaschen aus allen Anbaugebieten ist die größte der Welt. Kronjuwel unter den Raritäten ist die einzige noch erhaltene Flasche „Mogit Davids Osterwein“, Jahrgang 1902, Jerusalem. Der Liebhaberwert wird auf 100.000 Dollar geschätzt. Auch „Reichsmarschall“ Hermann Görings legendäre Beuteweine sind in der „Nationalen Oekonothek“ hinter Gittern wohl verwahrt.

Im Bacchus-Mekka ist jeder Pilger König. Fünf Besuchergruppen auf einmal können den Wein probieren, unter Kronleuchtern in pompösen Sälen oder in urigen Gewölben bei Kerzenschein. Eingestimmt wird mit „Schampanski“, Sekt nach Champagnerart. Der süße alte Krimsekt ist passé. Dutzende Arbeiterinnen drehen die Flaschen nach alter Tradition von Hand. Die vollautomatischen Rüttelmaschinen, erklärt man uns, hemmten die Geschmacksentfaltung.

Für Staatsbesuche öffnet der Präsidentensaal. Promis aus Politik und Gesellschaft schmücken das Gästebuch: Kosmonaut Jury Gagarin, Leonid Breschnew, Vladimir Putin, Chinas Staatschef Jiang Zemin, US-Außenminister John Kerry, EU-Ratspräsident Donald Tusk etc. Angela Merkel trug sich im August 2012 ein. Ihr Weingastgeschenk lagert in „Casa 291“. Ein kleines Fenster ermöglicht einen Blick in das Depot. Mit 250 km Stollenlänge ist Milesti Mici das größte Weingut der Welt. Fast 2 Millionen Flaschen lagern in den Depots. Die Besucher können mit eigenem Wagen in die Keller fahren.

Beschaulicher geht es in Purcari im Südosten zu. Das 1827 gegründete und älteste Weingut begeisterte schon den Zarenhof. Auf der Weltausstellung 1878 in Paris wurde es mit dem 1. Preis für einen Rotwein prämiert, der die Juroren an die besten Gewächse aus dem französischen Bordelais erinnerte. Der „Negro de Purcari“, der erst nach drei Jahren sein volles Aroma freisetzt, machte das abgeschiedene bessarabische Dorf in der Weinszene weltbekannt. Im benachbarten Cromaz bringen die Brüder Igor und Alexander Luchanow unter dem Label „Et Cetera“ neue Kreationen ins Spiel. Ihr Weinberg reicht bis ans Gästehaus. Sie zählen zu einer Gruppe von jungen Winzern, die auf organisch-biologischen Anbau setzt.

Die Vielfalt des Angebots präsentiert sich beim jährlichen Weinfestival. Jeweils am ersten Oktoberwochenende herrscht in Chișinău Ausnahmezustand. Zehntausende aus allen Teilen der Republik, aus Rumänien und der Ukraine und verwandeln die Stadt in einen quirligen Hexenkessel. Schon am Vorabend wird die Festmeile rund um Stadtpark und Auferstehungskathedrale für den Verkehr gesperrt, gibt es keinen freien Parkplatz mehr. Den „Nationalen Feiertag des Weins“ gestalten Betriebe aus allen fünf Anbauregionen zu einer eindrucksvollen Leistungs- und Folkloreschau mit Musik und Tanz. Schlagerstars heizen die Stimmung von der Bühne an. Nach der offiziellen Begrüßung öffnen Stände und Zelte. Die staatliche Weinwerbung verkauft Tickets aus Plexiglas. Für umgerechnet zwei Euro kann man sich durch alle Lagen trinken…

Bauern aus der Provinz sind mit Bergen von Trauben, Pflaumen, Aprikosen, Nüssen und Honig angereist. Holzschnitzer, Silberschmiede, Ikonenmaler, Töpfer und Schmuckdesigner zeigen unverfälschte Handwerkskunst. Bemalte Tücher, Stickereien und Trachtenkleider flattern an Leinen im lauen Herbstwind. Bis in den späten Abend wird auf der grünen Wiese gehandelt, an Imbissständen gesotten und gegrillt, werden die Gläser in den proppenvollen Freiluft-Schänken ständig nachgefüllt.

Moldawien hat 3,5 Millionen Einwohner, über 700.000 leben in der Hauptstadt mit dem einzigen zivil genutztem Flughafen. Der sieben Hektar schmucke Stadtpark mit seiner Fülle von Dichterstatuen, Springbrunnen und dem Denkmal des Nationalhelden Stefan des Großen ist nur eine Oase der Ruhe. Zahlreiche kleinere Parks und die von Bäumen dicht gesäumten Straßen machen Chisinau zur grünen Metropole.

Eines der wenigen architektonisch bedeutenden Bauwerke der Sowjet-Ära ist der Präsidentenpalast. 1990, ein Jahr vor der Unabhängigkeit fertiggestellt, besticht er durch avantgardistischen Stil mit weißer Fassade und schwarzem Glas. Ebenfalls bemerkenswert ist der unter Breschnew erbaute Zirkus. V-förmige Streben stützen die Manege. Das längst verwaiste Haus hatte 1900 Plätze.

Bürgermeister Karl Schmidt

Viele historische Gebäude stammen noch aus der Amtszeit des deutschen Bürgermeisters Karl Schmidt (1879-1903). Er legte mit Straßen, Kanalisation und Trinkwasser den Grundstein für eine moderne europäische Stadt. Schmidt baute auch die erste Pferdebahn, Schulen und Krankenhäuser. Ein Hingucker im pseudomaurischen Stil ist das „Nationalmuseum für Ethnografie und Naturgeschichte“. Ein Teil der wertvollen Sammlung stiftete Wissenschaftler Franz Ostermann (1844-1905) aus seinem Privatbesitz. Das vollständig erhaltene Skelett eines Hauer Elefanten aus der Dinosaurierfamilie wird auf sieben Millionen Jahre geschätzt.

Ein riesiges Totenfeld ist der Jüdische Friedhof. Der älteste Teil wurde 1820 angelegt. Bis zu 30.000 Grabsteine bedecken elf Hektar Fläche, ein schauriges Erlebnis in den frühen Abendstunden.

Lange lag Moldawien fernab der Touristenpfade, galt als letztes unbekannte Stück Europas. Das soll sich ändern. Wie kaum anderswo ist der bäuerliche Alltag noch so naturnah, künden so viele Klöster, Kirchen und Kapellen vom Miteinander von Moslems, Christen, Juden und Orthodoxen, wechselten Grenzen und Nationalitäten auf engstem Raum. Das zeigt ein Abstecher in das autonome Gagausien, Siedlungsgebiet einer turko-bulgarischen Minderheit. Auch dort, im Südosten Moldawiens, bildete sich nach der Wende zunächst eine sozialistische Republik.

Der Status als Territorialautonomie führte 1994 jedoch zur friedlichen Lösung. Die symbolische Grenze markiert ein Monument neben der Straße, die in die Hauptstadt Comrad (23.000 Einwohner) führt. Die Kathedrale ist sehenswert. Eine Statue des früheren türkischen Staatpräsidenten Demirel würdigt die enge Verbindung der 170.000 Gagausen mit der Türkei.

Vor den plündernden Osmanen flüchteten Angehörige des Turkvolks im Mittelalter nach Bessarabien und vermischten sich mit den dort ansässigen Bulgaren. Der damalige türkische Ministerpräsident Süleyman Demirel (1924-2015) unterstützte den Aufbau einer kleinen türkischen Universität in Comrad und förderte die kulturelle Infrastruktur. Die türkische Regierung, so hört man, habe inzwischen den Geldhahn zugedreht.

In Besima, einem Dorf in der Umgebung, wird im „Museum für Geschichte und Ethnografie“ eine anschauliche Chronik des kleinen Volkes aufgeschlagen. Bäuerliche Gerätschaft, Hausrat, Kleidung, Schmuck, Musikinstrumente, Spielzeug, Briefe, Urkunden und vieles andere mehr füllen die Räume. An einer Wand hängen vergilbte Zeitungsausschnitte aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“, umrahmt von Fotos von Gefallenen, Soldbüchern, Orden und Rangabzeichen. Dort trauerten Mütter um ihre Söhne, die bei den Sowjets oder den Deutschen gekämpft hatten.

Über 90.000 Bessarabiendeutsche wurden nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 in andere Ostgebiete umgesiedelt, aus denen sie 1945 wieder flüchten mussten. Mehrere größere Ausreisewellen folgten zur Sowjetzeit. Die deutschen Dörfer sind noch gut erhalten. Nun lernen Enkel und Urenkel die Heimat ihrer Vorfahren kennen. Sie waren vor 200 Jahren aus Schwaben aufgebrochen, verwandelten Steppe in fruchtbares Land. Besuchsprogramme auf den Spuren der Siedler schließen die Ukraine ein.

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Über Karl-Heinz Hänel

Ich bin freier Reise- und Bild-Journalist, ein PR-Multiplikator, unterhalte meine Leser mit Product Placement und erzähle Geschichten in Wort und Bild, die ich selbst erlebt habe. Dafür bin ich redaktionell verantwortlich. Alle Angaben gemäß § 5 TMG finden Sie im Impressum und in meiner Vita
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